Im Rahmen der New Work
Bewegung gibt es ein Thema, das immer wieder auftaucht und Fragen aufwirft: Wie
kann eine bestehende und langjährig etablierte hierarchische Struktur in einer
Firma verändert werden und dadurch eine neue Art des Arbeitens und des
Miteinanders geschehen? Oftmals wird versucht neue Resultate im alt bekannten
Kontext zu erzielen, was sich jedoch als sehr schwierig erweist. Hast Du jemals
versucht, zu neuen Ergebnissen zu kommen, ohne Dein Handeln oder Deine
Gedankenmuster tatsächlich zu ändern? Fast jeder hat dieses Vorgehen schon
probiert. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass es nicht funktioniert. Obwohl
sie es besser wissen müssten, versuchen die Menschen es jedoch immer wieder. Um
es mit den Worten Albert Einsteins zu sagen „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und
gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“
Der Kontext bestimmt, was möglich ist
Wie ist es also möglich,
neue Resultate zu erzielen? Um tatsächlich neue Resultate erzielen zu können, ist
es notwendig, in einen neuen Kontext zu wechseln, in dem nicht mehr das
gewöhnliche Verhalten, die gewöhnlichen Perspektiven und Bedingungen
vorherrschen. Der vorherrschende Kontext bestimmt grundsätzlich, was möglich
ist. Es ist entscheidend, durch einen neuen Kontext eine neue Kultur zumindest
in Ansätzen zu entwickeln, um den gewohnten kulturellen Kontext im Unternehmen
abzulösen bzw. überflüssig zu machen.
Die Anschlussfrage, die
sich somit aufdrängt lautet: Welche Kultur – basierend auf dem Kontext -
herrscht im Unternehmen vor?
Die meisten Menschen sind Unternehmenskulturen
gewohnt, in denen Hierarchie vorherrscht, die top down funktioniert. Die
klassische, hierarchische Struktur hatte dabei ursprünglich die Absicht, die
Komplexität zu reduzieren und durch Kontrolle vermeintliche Sicherheit zu
schaffen. Je besser die Abläufe und Menschen kontrolliert werden können – so eine
der bisherigen Annahmen – desto besser können die Unternehmens-ziele und -ergebnisse
gesteuert werden. Bis zu einem gewissen Grad hat das in der Vergangenheit auch funktioniert.
Die Problematik daran ist jedoch mittlerweile, dass wir in einer hochkomplexen Welt
leben, die sich immer schneller verändert. Der Versuch, die steigende Komplexität
durch bisher bekannte, hierarchische Strukturen weiterhin zu meistern, erweist
sich zunehmend als Sackgasse.
Komplexität ist das Gegenstück zu Kompliziertheit
Komplexität bezeichnet das
Verhalten eines Systems
oder Modells,
dessen viele Komponenten auf verschiedene Weise miteinander interagieren
können, nur lokalen Regeln folgen und denen Instruktionen höherer Ebenen
unbekannt sind. Bei dem Begriff handelt es sich um ein Kompositum aus der
lateinischen Präposition cum ‚mit‘,
oder ‚zusammen mit‘ und plectere
‚flechten‘ oder ‚ineinander fügen‘ Sinne von ‚verflochten‘, ‚verwoben‘.
(Quelle: Wikipedia)
Wenn man diese Bedeutung
mit der Arbeitswelt verknüpft – die meisten Firmenstrukturen sind hoch komplex
– so würde dies bedeuten, dass es entscheidend ist, die Komplexität an sich zu
nutzen und ein Miteinander und eine Verflechtung von Talenten zu fördern,
sodass sich die Qualitäten der einzelnen Mitarbeiter und Abläufe ineinander
fügen können.
Viele Menschen verknüpfen
Komplexität jedoch mit Kompliziertheit. Dabei ist Komplexität das Gegenstück zu
Kompliziertheit. Erst wenn wir versuchen, Komplexität zu verstehen und durch
bekannte hierarchische Strukturen zu kontrollieren, dann wird es kompliziert.
Eine neue Möglichkeit
könnte sich dadurch ergeben, nicht zu versuchen, die Komplexität zu reduzieren,
sondern die Kompliziertheit. Dies ist ein Ansatz, der einem anderen als den
bisher gängigen Kontexten entspringt. Doch genau das erfordert eine mutige
Fertigkeit, die dem gängigen Vorgehen entgegensteht. Die Kompliziertheit zu
reduzieren und die Komplexität zu nutzen, macht es notwendig, dass Du im
Nichtwissen stehen und es aushalten kannst.
Komplexität beinhaltet Nichtwissen
Aus dem Nichtwissen heraus
zu agieren bedeutet, tatsächlich keine Ahnung zu haben, wie etwas geht. Dieser
Aspekt an sich scheint völlig absurd, da in der modernen Arbeitswelt der Fokus
stark auf Kontrolle und Sicherheit liegt. Die Jahreszahlen, der Gewinn, der
Marktanteil, alles wird genau geplant. Ein Manager, der keine Antwort auf
Fragen hat, auf Kontrolle der Mitarbeiter verzichtet oder keine Ahnung hat, wie
sich ein Projekt entwickeln wird, wird schnell als unprofessionell und nicht
zurechnungsfähig abgestempelt. In der bisherigen Arbeitswelt war es beinahe absolut
notwendig, die Dinge im Griff zu haben, zu wissen wie etwas geht, kein zu hohes
Risiko einzugehen und jederzeit eine professionelle Figur zu machen.
Diese Aspekte stehen
Evolution und damit dem Etablieren einer neuen Arbeitskultur jedoch entgegen.
Evolution funktioniert nicht mit Kontrolle, Sicherheit, Netz und doppeltem
Boden. Oder dachtest Du die ersten Segler hätten gewusst, wie ihre Reise
verlaufen würde, als sie sich auf den Weg machten zu schauen, ob sie am Ende
der flachen Erdscheibe tatsächlich mit ihrem Schiff über die Kante fallen oder
sich die Erde als rund erweisen würde? Pioniere sind bereit, nicht zu wissen.
Menschen mit der Vision, dass ein anderes Arbeiten im Dienst der Menschen und
der Erde möglich ist, sind bereit, voranzugehen ohne zu wissen, wie es geht.
Die Vision ist in dem Fall wichtiger, als „gut“ auszusehen und von allen
akzeptiert und gemocht zu werden.
Evolution entsteht aus dem
Nichtwissen. Was bedeutet das konkret? Wenn Du eine brillante, innovative Idee
hast, wie neues Arbeiten funktionieren könnte, dann musst Du nicht jetzt
bereits wissen, wie Du es realisierst. Es ist nicht notwendig, im Vorfeld
bereits die Meilensteine in einem Projektplan niederzuschreiben, alle Details
zu kennen oder gar zu wissen, wie sich die Idee bzw. das Projekt entwickeln
wird. Entscheidend ist vielmehr, dass Du Dich der Vision verpflichtest. Die
Entscheidung und Verpflichtung kommen zuerst. Der Rest ergibt sich dann automatisch
Schritt für Schritt. „Vertraue dem Prozess“ ist dabei eine Maxime.
Um im Nichtwissen stehen
zu können, ist eines allerdings entscheidend: Du musst mit Deiner Angst
vertraut sein und sie als neutrale Energie und Information wahrnehmen und
aushalten können. Mit dem Glaubenssatz Angst sei negativ und unprofessionell,
wirst Du Deine Komfortzone nicht verlassen und somit vermeiden im Unternehmen
möglicherweise gefährliche Fragen zu stellen, auf Missstände hinzuweisen, verrückte
Ideen auszuprobieren und Deine Vision einer neuen Arbeitsweise Wirklichkeit
werden zu lassen. Bedarf Mut, voranzuschreiten? Ja, durchaus. Doch ziehe einmal
Folgendes in Betracht:
Mut ist nicht das Ausbleiben von Angst. Mut ist die Entscheidung, dass etwas
anderes wichtiger ist, als die Angst.
Hier ein konkretes
Beispiel der Firma Gutmann Aluminiumdraht GmbH in Weißenburg (GAD), die genau
diesen Weg gegangen ist:
Der Start der
Transformation bei der GAD (nach einer langen und intensiven Vorbereitungszeit)
begann unter der Geschäftsführung von Paul Habbel in 2015. Er revolutionierte
schrittweise die Organisation, nachdem die Mitarbeiter der Firma auf Basis des
Films „Mein wunderbarer Arbeitsplatz“ einstimmig entschieden hatten, dass sie
so arbeiten wollten, wie es im Film dargestellt wurde. Sie waren inspiriert von
dem Gedanken einer neuen Firmen- und Arbeitskultur. Anlässlich eines Kulturwandeltages, zu dem regelmäßig
interessierte Firmen eingeladen werden, die vom Beispiel Gutmann lernen
möchten, erzählte Paul Habbel „Wir wussten nicht wie es geht. Wir wissen es
auch heute noch nicht. Das einzige, was wir tun können, ist ein Schritt nach
dem anderen zu machen und zu schauen, was funktioniert und was nicht
funktioniert.“ Und bei Gutmann
funktioniert mittlerweile einiges im Sinne einer neuen Arbeitswelt,
beispielsweise folgende:
- Besprechungen finden hauptsächlich in Stuhlkreisen statt und nicht mehr an Tischen.
- Das Motto „Zuhören um den menschlichen Geist zu entzünden, nicht um zu antworten“ wird gelebt.
- Klassische, personengebundene Hierarchien wurden abgeschafft und durch eine natürliche Hierarchie ersetzt.
- Die Mitarbeiter der Produktion planen selbstständig und verantwortlich ihre Schichten gemeinsam.
- Auch die verantwortliche und Team-orientierte Urlaubsplanung wird mittlerweile in die Hände der Mitarbeiter gelegt.
- Fehler werden als Lern- und Wachstumsquelle gesehen, nicht als individuelles Versagen
- Von oben aufgedrückte Entscheidungen gehören der Vergangenheit an.
- Ein Miteinander auf Augenhöhe über alle Abteilungen hinweg.
Bei der GAD wird das
Nichtwissen und die Angst also genutzt, um kreativ zu werden, innovativ zu sein,
ungewöhnliche, bahnbrechende Ideen zu entwickeln, neues Gebiet zu betreten und zu
erforschen, achtsam zu sein (insbesondere was die Mitarbeiter im
Wandlungsprozess angeht), sich zu konzentrieren, neugierig zu sein, präzise zu sein,
gefährliche Fragen zu stellen, Fehler zu machen und daraus zu lernen, nichtlinear
vorzugehen, zu improvisieren und Gefahren bzw. Risiken zu wittern.
Komplexität beinhaltet natürliche Hierarchie und Miteinander auf
Augenhöhe
Bei Gutmann wird die
Vielfalt der Komplexität genutzt, um eine neue Ordnung im Unternehmen zu
schaffen, eine Ordnung, bei der die Mitarbeiter allesamt auf Augenhöhe
miteinander kommunizieren und das Miteinander entscheidend ist. Allein von der
Definition her schließt Komplexität eine natürliche Hierarchie oder Ordnung
ein, da alles miteinander verflochten ist und zusammen wirkt. Die Tatsache,
dass völlig neue – für den ein oder anderen möglicherweise verrückte - Ideen bei
der GAD eingebracht und umgesetzt werden und damit der Weg für eine neue Kultur
geebnet wird, inspiriert die Mitarbeiter mehr und mehr. Ist dieser
Wandlungsprozess ein leichtes Unterfangen? Sicherlich nicht. Solch ein
Wandlungsprozess bringt viele Stolpersteine mit sich. Einen neuen Kontext und
damit eine neue Kultur zu etablieren, ist gerade für Mitarbeiter, die gerne
ihren gewohnten Arbeitsbereich haben und es bevorzugen, in ihrer Komfortzone zu
bleiben, eine echte Herausforderung. Umso wichtiger ist es, in der Veränderung
selbst, permanent auf das Miteinander zu achten und zu schauen, wo die
einzelnen Mitarbeiter stehen und wie es ihnen geht. Doch eines steht fest.
Kultur frisst Struktur zum Frühstück. Sobald die Mitarbeiter von der Vision
einer neuen Kultur inspiriert sind und bereit sind, diesen Weg einzuschlagen,
beginnen die alten hierarchischen Strukturen und Vorgehen zusammenzubrechen.
Kultur ist stärker als Struktur. Doch es ist notwendig, dass es in Firma Visionäre
und Pioniere gibt, die sich verpflichten den Rahmen zu schaffen bzw. den Raum
für solch ein Veränderungsprojekt zu halten. Bist Du bereit, diese
Verpflichtung einzugehen? In welcher Art von Unternehmenskultur würdest Du
gerne arbeiten bzw. leben?
Beste Grüße,
Nicola Nagel
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