Montag, 14. Dezember 2015

NEW WORK: Wer bin ich im Unternehmen? - Über eine andere Art von Job-Titel.



In den meisten Unternehmen wird ein alt hergebrachtes Konzept angewandt, das scheinbar die wenigsten hinterfragen. Es ist das Konzept der Position oder Stelle und damit einhergehend der entsprechende Titel eines Mitarbeiters. Über die Jahre hinweg haben sich in der Wirtschaft Begriffe für Jobbeschreibungen geformt, die mittlerweile gängig sind und von den meisten Menschen verstanden werden: Sachbearbeiterin, Entwickler, Geschäftsführer, Leiter Technik, Einkaufsleiter, Key Account Manager, Pressesprecherin, Marketingbeauftragter etc. Auf den ersten Blick scheint es durchaus sinnvoll zu sein, ein Aufgabenfeld mit einem Titel zu belegen und dadurch die Aufgaben zu normen. Doch den wenigsten scheint bewusst zu sein, wie einengend Standard-Titel sind und wie sehr sie das eigentlich vorhandene Potenzial begrenzen.

Über einen Standardtitel werden Mitarbeiter automatisch in bestimmte Schubladen gesteckt. Erhält beispielsweise eine Person den Titel „Sachbearbeiterin Materialwirtschaft“, so begrenzt dieser die Person auf das, was sie laut Jobbeschreibung zu tun hat. Eine Sachbearbeiterin hat in dem Fall kleine Dinge abzuarbeiten und Papierkram zu machen, ist jedoch in der Regel nicht „befugt“ visionär zu denken und außergewöhnliche Methoden anzuwenden. Anders ist es bei dem Titel „Einkaufsleiter“. Allein der Drall des Titels ermächtigt die entsprechende Person mehr Verantwortung zu übernehmen und andere Menschen zu führen. Dabei gibt es zahlreiche Menschen mit vermeintlich „hoch aufgehängten“ Titeln, die alles andere als tragfähige Führungsqualitäten haben und stattdessen meinen allein aufgrund des Leiter-Titels Macht ausüben zu können.

Standard-Titel fördern hierarchisches Denken und Konkurrenz. Sie werden „von oben“ übergeben oder zugeteilt bzw. angeordnet und dienen dazu Mitarbeiter zu kategorisieren. Durch hierarchisch zugeordnete Titel werden Mitarbeiter „messbar“, denn je höher der Titel, desto höher fällt in der Regel das Gehalt aus.

Zudem scheinen viele Menschen sich im Unternehmen über ihren Titel zu definieren. Ein höherer Title heißt in der Regel nicht nur mehr Geld auf dem Konto, sondern auch mehr Anerkennung. Somit ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen nach einem höheren Titel streben, um vermeintlich mehr Anerkennung zu bekommen. Mit jedem Titel geht eine unbewusste Wertung einher. Einer Person mit einem höher gestellten Titel wird oftmals mehr Respekt gezollt. Z. B. haben viele Mitarbeiter mehr Respekt vor einem Geschäftsführer als vor einem Sachbearbeiter oder Produktionsmitarbeiter. Diese Wertung spiegelt sich auch darin wider, dass in der modernen Gesellschaft eine der ersten Fragen beim Kennenlernen einer neuen Person in der Regel folgende ist: „Und, was machen Sie so?“ Es geht also in erster Linie darum, was jemand HAT (Geld, Besitz) und was jemand TUT (Position, Titel, etc.). In den seltensten Fällen geht es darum, wie jemand IST. Die essentiellen Seins-Qualitäten einer Person werden hinten angestellt bzw. vollständig vergessen.

In der Unternehmenswelt herrscht ein erbitterter hierarchischer Wettkampf um Positionen und damit einhergehende Titel, der manchmal ganz offensichtlich (z. B. kürzlich bei VW) und oftmals subtil gespielt wird. Wenn die Aussicht auf einen ruhmreichen Titel zum Greifen nahe ist, wird an Stühlen gesägt und versucht Mitarbeiter auszubooten, was das Zeug hält.

Dabei sind gewöhnliche Titel alles andere als ruhmreich, denn sie sind sehr auf Logik und Linearität beschränkt. Beispielsweise ist der Titel Leiter Materialwirtschaft in sich hierarchisch und die entsprechende Person hat in erster Linie die Möglichkeit, linear zu führen. Gleiches gilt für andere Titel-Bezeichnungen. Sie limitieren die Mitarbeiter durch die Linearität auf das Tun bestimmter Aufgaben, sodass der jeweilige Titelinhaber zu einer leicht ersetzbaren Ressource. Verlässt ein Mitarbeiter das Unternehmen, so ist es ein leichtes, die gleiche Stelle mit dem entsprechenden Standard-Titel wieder auszuschreiben und eine andere Person auf die Position zu setzen. Durch gewöhnliche Titel werden Menschen in Unternehmen austauschbar, während das Einzigartige, die menschlichen Seins-Qualitäten auf der Strecke bleiben.

Gewöhnliche Titel sind in der Regel in Stein gemeißelt. Es geht maßgeblich um die fachliche Kompetenz, die einem Titel zugeschrieben wird, und innerhalb derer sich ein Mitarbeiter bewegen kann. Gleichzeitig verlangen einige Titel heutzutage automatisch ein bestimmtes Agieren. Der Titel eines Geschäftsführers oder Abteilungsleiters bedeutet beispielsweise vielerorts, dass die entsprechende Person alles wissen muss, die Dinge im Griff haben muss und der einsame Wolf an der Spitze ist. Ein Sachbearbeiter darf hingegen auch schon einmal Dienst nach Vorschrift machen, denn schließlich ist er dazu da Papierkram abzuarbeiten.

Zu guter Letzt sind gewöhnlich Titel vor allem eines: langweilig und trocken.

Doch was nun? Wie würde denn eine andere Art der Titelvergabe aussehen? Und wie würden im Gegensatz zu gewöhnlichen Titeln außergewöhnliche Titel lauten, die beschreiben, was der jeweilige Mitarbeiter IST?

Ziehen Sie zunächst einmal in Betracht, dass es die Möglichkeit gibt, Titel zu erschaffen, die nicht auf dem Formular des Finanzamtes zu finden sind. Bei der Wahl eines außergewöhnlichen Titels geht es darum, den Fokus auf die Qualität der Seins-Eigenschaften des Mitarbeiters zu legen und ihn für das anzuerkennen, was er IST. Allein durch die Wahl des Titels wird der Mitarbeiter bereits ermächtigt, seine Talente und Qualitäten vollständig in das Unternehmen einzubringen.

Anders als bei einem gewöhnlichen Titel, der in der Regel von der Geschäftsleitung übergeben oder zugeordnet wird, wird ein außergewöhnlicher Titel vom Mitarbeiter selbst gewählt und enthält keinerlei hierarchischen Bezug. Es gibt weder Leiter, noch Manager, noch Geschäftsführer. Allein diese Idee könnte für viele Manager bereits ein apokalyptischer Albtraum sein, denn worüber sollen sie sich definieren, wenn nicht über ihre hierarische Machtposition?

Was es bei dem Experiment der außergewöhnlichen Titel zu beachten gilt, ist dass die alten hierarchischen Strukturen tief in uns Menschen verankert sind. Es würde also nicht funktionieren, die Mitarbeiter zu zwingen, ad hoc selbst einen neuen Titel zu wählen. Vielmehr ist es ein Experiment für kühne Pioniere, die bereit sind, eine andere Art von Arbeitswelt zu erschaffen und voran zu gehen. Die anderen Mitarbeiter werden in ihrem eigenen Tempo folgen. Ein mittelständisches, fränkisches Unternehmen hat dieses Experiment im Rahmen einer größeren Umstrukturierung begonnen und die Ergebnisse sind verblüffend.

Begonnen hat es mit der Frage einer Mitarbeiterin „Wer bin ich eigentlich im Unternehmen, wenn wir jetzt umstrukturieren?“ (An dieser Stelle sei erwähnt, dass es sich bei der Umstrukturierung um den evolutionären Wandel des Unternehmens von einer hierarchischen Organisation in zu einer sogenannte Netzwerk oder Galaxie-Organisation handelt.).

In einem ca. 1-stündigen, angeleiteten Prozess, filterte sie selbst heraus, was ihre tatsächlichen Seins-Eigenschaften sind, die sie in das Unternehmen einbringt und welches ihre Prinzipien sind, die ihre Arbeit unterstützen. Es handelt sich um einen kreativen, nicht-linearen Prozess, der Mitarbeiter ermächtigt, Verantwortung zu übernehmen und selbst einen Titel wählen, der ihnen entspricht, der jedoch gleichzeitig nichts mit einem gewöhnlichen Titel zu tun hat (beispielsweise kann ein Mitarbeiter nicht aus Gutdünken heraus den Titel „Manager“ oder „Abteilungsleiter“ wählen). Hier sind einige Beispiele für außergewöhnliche Titel, die Mitarbeiter in besagtem Unternehmen gewählt haben: 

  • Knotenpunkt Organisatorin
  • Menschen-Zahlen-und Event-Koordinatorin
  • Evolutions-Architekt
  • Möglichkeits-Abenteurerin
  • Netzwerk-Mediatorin
  • Verbindungs- und Koordinations-Designerin
  • Struktur- und Verbindungsgeberin
  • Möglichkeitsgenerierender Organisator
  • Team- und Produktions-Koordinator
  • Möglichkeiten- und Struktur Schmied
  • Holistischer Bewusstmacher

Nehmen sie den anderen Drall wahr? Außergewöhnliche Titel sind inspirierend und ermächtigend. Eine „Struktur und Verbindungsgeberin“ ist z. B. etwas anderes als eine „Sachbearbeiterin Archivierung“. Eine Möglichkeits-Abenteurerin ist etwas anderes als eine klassische „Geschäftsführerin“ (und um das Experiment in der o. g. Firma zu vervollständigen: in einer Betriebsversammlung legte die Inhaberin offiziell ihren Titel als Geschäftsführerin nieder, um die hierarchische Struktur weiter aufzulösen und so den Mitarbeitern auf Augenhöhe zu begegnen. Sie setzte den neuen Titel sogar umgehend auf ihre Visitenkarte. Der Geschäftsführer Titel wird nur noch aus rechtlichen Gründen in Finanzamts-Angelegenheiten verwendet). Ein außergewöhnlicher Titel macht den Titelinhaber zu einem einzigartigen Menschen mit individuellen sog. Hellen Prinzipien, Vorlieben, Fähigkeiten und Aufgaben. Somit ist er nicht mehr eine schnell austauschbare Ressource, sondern ein menschliches Unikat. 

Ein außergewöhnlicher Titel ist nicht hierarchisch und ermöglicht dadurch ein neues Spiel mit mehr Möglichkeiten. Er ist flexibel und weit und beschreibt die „Seins-Qualitäten“ einer Person, d. h. wie ein Mitarbeiter im Unternehmen tatsächlich wirkt (im Sinne von kreieren).

Solch eine Art Titel beschreibt das Wesen und Potenzial der Mitarbeiter und ermöglicht ihnen ihre tatsächlichen Talente einzubringen und zu entwickeln und kreativ und nichtlinear vorzugehen. Durch außergewöhnliche Titel können Mitarbeiter nicht mehr in eine Schublade gesteckt und dadurch limitiert und klein gemacht werden. Im Gegenteil: die neuen Titel lassen die Mitarbeiter für etwas weitaus Größeres stehen. Und das ist spürbar. Diejenigen, die bereits einen außergewöhnlichen Titel bewusst gewählt haben, beginnen plötzlich sich in ihre neue Rolle hinein zu entfalten und zu wachsen. Sie strahlen mehr, fühlen sich in ihrem Sein gesehen und sind dadurch viel inspirierter.

Nun mögen Bedenkenträger sagen, dass dies ja lächerlich sei und in der Außenwirkung (beispielsweise gegenüber Kunden) nicht vertretbar sei. Nun, der Vorschlag an dieser Stelle ist: probieren Sie es aus! In dem mittelständischen, fränkischen Unternehmen haben die Mitarbeiter, die bereits einen neuen Titel gewählt haben, diesen nicht nur in der digitalen Signatur ihrer Emails stehen, sondern auch auf ihren Visitenkarten. Die bisherige Erfahrung ist, dass die neuen Titel Türöffner für sehr interessante Gespräche sind. Dadurch, dass die Mitarbeiter auch für Außenstehende nicht mehr in eine gewöhnliche Titel-Schublade gesteckt werden können, treten die Menschen, der Kontakt und der Austausch wieder in den Vordergrund.

Und noch einmal: dieser Schritt ist wagemutig. Und ja, es gibt Mitarbeiter, die diesen Schritt nicht sofort gehen möchten, weil die alten Strukturen einfach noch zu stark in ihnen wirken und die Idee, das Altbekannte zu verlassen noch zu gefährlich ist. Und das ist absolut in Ordnung. Bei Evolution gibt es immer einige Pioniere, die in das Unbekannte Gebiet vorangehen und Dinge zuerst neu ausprobieren, bevor andere nachkommen können. Und auch das ist Teil der nächsten Arbeitskultur: Neue Vorgehensweisen werden nicht einfach von oben vorgegeben, sondern entstehen aus dem Team heraus.

Im Folgenden finden Sie nochmals eine Aufstellung der Unterschiede zwischen einem gewöhnlichen, hierarchischen Standardtitel und einem außergewöhnlichen Seins-Titel.

Gewöhnlicher, hierarchischer
Standard-Titel
Außergewöhnlicher
Seins-Titel
Hierarchisch, weil von „oben“ übergeben, angeordnet.
Nicht hierarchisch, selbst gewählt.
Gehalt wird am Titel festgemacht.
Gehalt wird nicht mehr am Titel festgemacht.
Mitarbeiter definiert sich und das Maß an Anerkennung über den Titel. Je höher der Titel, desto höher die Anerkennung.
Mitarbeiter definiert sich über seine einzigartigen Seins-Qualitäten.
Fördert Konkurrenz.
Fördert Miteinander.
Macht Mitarbeiter klein.

Ermächtigt Mitarbeiter zu Verantwortung.



Entzieht Kraft, weil die Verantwortung für den Titel nicht beim Inhaber ist.
Gibt Kraft, weil der Titelinhaber den Titel selbstverantwortlich gewählt hat.
Macht den Titelinhaber zu einer leicht ersetzbaren, da austauschbaren Ressource.
Macht den Titelinhaber zu einem einzigartigen Mensch mit individuellen Hellen Prinzipien, Vorlieben, Fähigkeiten und Aufgaben. So ist er niemals ersetzbar.
Kann Verwirrung erzeugen. Z. B. kann ein Geschäftsführer über Vertrieb, Organisation, Technik usw. führen. Absicht ist oft nicht klar und lässt ein Gegenüber im Unklaren.
Gibt Klarheit über das, was ist.
Ist nur zufällig authentisch.
Ist authentisch.
Macht unfrei, weil eher in „Stein gemeißelt“
Macht frei und ist veränderbar.
Der Titel „Leiter XXX“ ist in sich hierarchisch und hat hauptsächlich die Möglichkeit, linear zu führen.
Neuer Titel ist nicht hierarchisch und ermöglicht ein neues Spiel mit mehr Möglichkeiten.
Beschreibt nur das Tun laut vorgegebener Jobbeschreibung.
Beschreibt die „Seins-Qualitäten“, d. h. wie ein Mitarbeiter im Unternehmen tatsächlich ist und wirkt (im Sinne von kreieren).
Ermöglicht Mitarbeitern nur im Rahmen der fachlichen Kompetenz zu agieren, die dem Titel zugeschrieben werden.
Ermöglicht Mitarbeitern ihre tatsächlichen Talente und Visionen einzubringen und zu entwickeln.
Ist starr und limitierend.
Ist flexibel und weit.
Ist auf Logik und Linearität begrenzt.
Ermöglicht Entfaltung und Nicht-Linearität.
Ist trocken und langweilig
Ist inspirierend, kreativ und ermächtigend.
Über alten Titel wird der Mitarbeiter bei Kunden und Kollegen sofort in eine bekannte „Schublade“ gesteckt. Der Mensch tritt in den Hintergrund.
Neuer Titel beschreibt das Wesen und Potenzial des Mitarbeiters und ist Türöffner für interessante Gespräche. Der Mensch tritt in den Vordergrund.

Sind Sie bereit für dieses außergewöhnliche Experiment?                                    

Tipp: Mehr zum Thema „New Work“ finden Sie im Buch „Edgeworker: Leadership war gestern – Es ist Zeit für die Führungs-(R)Evolution!“ von Nicola Nagel und Patrizia Servidio.




POTENZIALE LEBEN!
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Donnerstag, 12. November 2015

Thema Beziehung: Durch wessen Augen siehst Du Deinen Partner?



Hast Du Dir einmal Gedanken gemacht, durch wessen Augen Du Deinen Partner siehst? Die meisten mögen jetzt vielleicht antworten „Ist doch klar, durch meine!“. Doch interessanterweise sehen wir unseren Partner oftmals genau nicht durch unsere eigenen Augen, sondern durch die Augen unserer Mutter, unseres Vaters, oder anderer Autoritätspersonen und Rollenvorbilder. Das kann sehr schnell dazu führen, dass Du gewöhnliche Beziehung mit Reibereien, Streit, kleinen oder großen Dramen erschaffst und dadurch Nähe, Intimität und Vertrautheit zerstörst. Doch was bedeutet es konkret, den Partner nicht authentisch und neutral mit eigenen Augen zu sehen, sondern durch die Augen einer anderen Person?

Hier ein Beispiel: Vor einiger Zeit berichtete mir eine Mutter von zwei Kindern, dass sie mit ihrem Mann immer wieder aneinander geriet, sie ständig Meinungsverschiedenheiten hatten und stritten, obwohl sie sich doch eigentlich nur nach einer erfüllenden und nährenden Beziehung sehnte und auch versuchte daran zu arbeiten. Trotzdem fand sie sich wieder, wie sie direkt morgens nach dem Aufwachen ihrem Mann gegenüber zu allererst erwähnte, was er noch nicht erledigt hatte, falsch gemacht hatte usw. Es war wie ein automatisches Programm, das ablief und mit dem sie dafür sorgte, dass sie ihren Mann zum Schwein machte. Auf die Frage, wer ihr weibliches Rollenvorbild in der Kindheit gewesen sei, sagte sie „Meine Mutter“. Auf die nächste, weitaus gefährlichere Frage, wie ihre Mutter ihren Vater gesehen und behandelt habe, wurde es still. Dann antwortete sie: „Sie hat ihn fortwährend klein gemacht und ihn als Versager dargestellt.“ Die Art und Weise mit einem Partner umzugehen, hatte sie als Kind also unbewusst von ihrer Mutter abgeschaut und abgespeichert, sodass sie ihren eigenen Mann nun durch die Augen ihrer Mutter sah und die besagte Haltung, die ihre Mutter gegenüber ihrem Vater gezeigt hatte, kopierte. Die junge Frau konnte bis dahin die zahlreichen Kleinigkeiten, die ihr Mann täglich erledigte, gar nicht sehen. Sie sah weder, dass er sich liebevoll mit den Kindern beschäftigte, noch dass er im Haushalt half. Stattdessen sah sie, dass er beim gemeinsamen Kochen, die leere Verpackung auf der Arbeitsplatte stehen ließ und der kleinen Tochter die „falschen“ Socken anzog. Dieses  Beispiel ist nur eines von vielen und trifft übrigens für Männer und Frauen gleichermaßen zu.

In der Kindheit orientieren wir uns naturgemäß an Autoritätspersonen, die meist Rollenmodelle darstellen. In Bezug auf Beziehung orientieren sich Männer und Frauen häufig an der Mutter als weibliches Rollenmodell bzw. am Vater als männliches Rollenmodell. Anstatt unseren Partner mit neutralen Augen anzuschauen und ihn für das anzuerkennen, was er ist, projizieren Männer wie Frauen oftmals das Verhalten ihrer Eltern auf den Partner.

Mutter als weibliches Rollenvorbild:
Je nachdem, wie Deine Mutter agiert hat, kann es sein, Du unterschiedliche Dinge übernommen hast. Es gibt diesbezüglich sicherlich viele verschiedene Facetten. Im Folgenden werden daher nur die beiden Extreme dargestellt:

1.    Wenn dein Vater dominant – vielleicht sogar aggressiv und gewalttätig – war, Deine Mutter Dir ihre Sichtweise der Dinge geschildert hat und das Verhalten des Vaters als negativ bewertet hat, um Dich auf ihre Seite zu ziehen, dann hat sie dich dahingehend manipuliert, Deinen Vater durch ihre Augen zu sehen. Wenn Deine Mutter nie Stellung bezogen hat, sie Dich möglicherweise sogar beschwichtigt hat, wenn Du rebellisch werden wolltest, um nicht den Zorn des Vaters zu erregen, dann hat sie sich komplett angepasst verhalten. Falls Du Dich sehr mit Deiner Mutter identifiziert hast und Dir einer oder mehrere dieser Aspekte bekannt vorkommen, dann könnte Dein unbewusstes Programm sein, dass Du – wenn Du eine Frau bist - in einer Beziehung versuchst, es Deinem Partner permanent recht zu machen. Dann verhältst Du dich möglicherweise angepasst, bist lieb und nett um der Harmonie willen und vermeidest, kraftvoll, zentriert und präsent als erwachsene Frau Deinem Partner gegenüber zu treten und Grenzen zu setzen. Möglicherweise ziehst Du dann sogar einen Mann an, der die Verhaltensweise Deines Vaters zeigt, damit Du unbewusst Dein „nettes-Mädchen-Muster“ weiter bedienen kannst.

Bist Du ein Mann, so könnte es sein, dass Du Dich daran gewöhnt hast, dass Frauen klein Beigeben und alles tun, um es Männern recht zu machen und sie nicht zu provozieren. Möglicherweise hast Du dadurch die unbewusste Annahme getroffen, dass Frauen schwach und sehr leicht manipulierbar sind.

2.    Wenn Deine Mutter hingegen der Ansicht war, dass Dein Vater ein Waschlappen, fauler Hund oder Verlierer sei und dies in Deinem Beisein immer wieder zum Ausdruck gebracht hat, indem Sie ihn z. B. belächelt, beschuldig, klein gemacht, verspottet, lächerlich oder ähnliches gemacht hat, dann hast Du dieses Muster möglicherweise abgespeichert und projizierst heute als Frau dieses Muster auf Deinen Partner. Dann machst Du eventuell Deinen Partner unbewusst durch Kleinigkeiten zum Schwein, bewertest jede seiner Aktionen in „gut“ und „schlecht“ bzw. „richtig“ und „falsch“, findest genau die Dinge, die er eben „schon wieder“ nicht hinbekommen hat, und rollst mit den Augen, wenn er irgendetwas nicht so macht, wie Du es gerne hättest (z. B. die Socken rumliegen lässt, den Toilettendeckel nicht schließt, Dinge vergisst etc.). Du findest zig Beweise jeden Tag, dass er ein Idiot ist, und lässt ihn das auch entsprechend wissen.

Wenn Du ein Mann bist, könnte eine Auswirkung sein, dass Du die Grundannahme übernommen hast, dass Frauen Männern nichts zutrauen, sie als Feinde ansehen, ständig rumnörgeln und Du es einer Frau nicht recht machen kannst. Möglicherweise spürst Du deswegen eine gewisse Unsicherheit in Gegenwart von Frauen und bist permanent auf Hab-Acht-Stellung. Eventuell ist Dir gegenüber Deiner Partnerin auch schon einmal der Spruch von den Lippen geglitten „Oh man, Du bist genau wie meine Mutter“. Abgesehen davon siehst Du möglicherweise auch Deinen Vater durch die Augen Deiner Mutter und hast ihre Meinung übernommen.

In beiden Fällen hast Du kein Rollenvorbild gehabt, kein lebendes Beispiel dafür, was es bedeutet, den Partner mit Respekt zu behandeln. In beiden Fällen hast Du gelernt als Kind den Vater durch die Augen und Blockaden der Mutter zu sehen. Du hast Deinen Vater nicht neutral gesehen, sondern hattest nur die Projektionen Deiner Mutter auf Deinen Vater als Modell.

Vater als männliches Rollenvorbild:
Auch auf der Vaterseite gibt es sicherlich viele Facetten an Rollenvorbildern. Doch lass uns auch in diesem Fall beispielhaft zwei Extreme betrachten:
1.    Wenn Dein Vater dominant war, die Kontrolle über alles behalten musste, sein Wort Gesetz war, er Deiner Mutter über den Mund gefahren ist und sie in Deiner Gegenwart als inkompetent oder dumm dargestellt hat, dann siehst Du – wenn Du ein Mann bist – Deine Mutter und auch Deine Partnerin möglicherweise durch die Augen Deines Vaters. Da er Dein männliches Rollenvorbild für Beziehung war, dirigierst Du möglicherweise Deine Partnerin genauso durch die Gegend, sagst ihr, was sie tun und lassen soll und sorgst unbewusst dafür, dass sie nicht in ihre Kraft kommt. Wenn Du Dich mit Deinem Vater identifiziert hast und er sich in Deiner Gegenwart abwertend über Deine Mutter geäußert hat, dann hast Du möglicherweise nicht gelernt, was es bedeutet, eine Frau wirklich respektvoll zu behandeln.

Wenn Du Als Frau sehr mit Deinem Vater identifiziert warst, könntest Du den Eindruck gewonnen haben, dass Du es Männern nicht recht machen kannst und hast deswegen möglicherweise immer die Frage im Hinterkopf, ob Du gut genug für einen Mann bist. Möglicherweise hast Du auch eine ganz andere Annahme getroffen, nämlich dass Männer dominant und aggressiv sind. Falls Deine Mutter es damals geschafft hat, Dich auf ihre Seite zu ziehen oder Du selbst entschieden hast, Dich auf ihre Seite zu stellen, könnte es sein, dass Du unbewusst einen gewissen Männerhass entwickelt hast, der sich heute gleichermaßen unbewusst über Deine Energie im Zusammensein mit Männern ausdrückt (z. B. indem Du kleine, ironische Witze über Männer reißt oder ihnen Gemeinheiten an den Kopf schmeißt).

2.    Hattest Du hingegen einen Vater, der keine Grenzen setzen konnte, eher weich und zurückhaltend war, sich komplett aus dem Geschehen herausgezogen hat und in Deinem Beisein wiederholt nur ein ignorantes „Jaja“ zu Deiner Mutter gesagt hat oder sie im Extremfall als „Drachen“ bezeichnet hat, den man einfach fauchen und reden lassen sollte, dann siehst Du – wenn Du ein Mann bist - möglicherweise Deine Partnerin heute genau durch diese Augen. Das kann dazu führen, dass Du ihr nicht zuhörst, wenn sie etwas erzählt oder Du sie vor die Wand laufen lässt, wenn sie Deine Meinung oder einen Ratschlag von Dir braucht. Wenn Du Dich mit Deinem Vater identifiziert hast, kann eine Auswirkung zudem sein, dass Du nicht mit Deiner archetypischen, männlichen Kraft verbunden bist, weil Dein Vater Dir nicht gezeigt hat, was das bedeutet. Möglicherweise kannst Du deswegen keine Grenzen setzen, keine klaren Entscheidungen treffen und nicht voller Energie und Tatendrang im Leben stehen.

Bist Du eine Frau und hattest einen starken Bezug zu Deinem Vater, so könnte dieses väterliche Rollenmodell Dich veranlasst haben zu glauben, dass Männer sowieso nicht zuhören können und sich aus dem Staub machen (physisch oder energetisch), wenn es drauf ankommt. Eventuell siehst Du auch Deine Mutter nicht neutral, sondern durch die Augen Deines Vaters.

Dieses Thema ist fast zu komplex, um es in einem kurzen Artikel zu betrachten. Es gibt wie gesagt noch viele weitere Facetten dieser beschriebenen Extreme und darüber hinaus weitere Einflussfaktoren, die die Basis dafür bilden, wie wir Beziehung leben und mit unserem Partner sind. Trotzdem ist es lohnend, sich darüber einmal Gedanken zu machen, woher Du Deine Verhaltensweisen in Beziehung kopiert oder erlernt hast. Sobald wir eine subjektiv gefärbte Sichtweise über den Vater oder die Mutter vermittelt bekommen haben, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir unseren Partner bzw. unsere Partnerin durch die gleiche Brille sehen und genau die gleichen Muster auf sie projizieren.
Nur wenn wir zwei Elternteile hatten, die sich gegenseitig mit Respekt behandelt haben, haben wir die Möglichkeit unseren Partner ebenfalls mit Respekt zu behandeln.

Das Interessante ist, dass viele Menschen oftmals Partner wählen, die ihren eigenen Eltern entsprechend ähneln, selbst, wenn die Eltern kein Vorbild für außergewöhnliche und respektvolle Beziehung geliefert haben. Wir ziehen eine Zeit lang genau die Partner an, die uns das spiegeln bzw. mit denen wir unsere jeweiligen Muster und Rollenprogramme abspulen können, bis wir etwas daraus gelernt haben. Deine Box – auch bekannt als Dein Ego, Deine Glaubenssätze, Deine Identität – reproduziert lieber unbewusst das altbekannte, vorgelebte Muster, als sich in unbekanntes, neues Gebiet zu wagen. Wenn Du Dich umschaust, wirst Du mit großer Wahrscheinlichkeit Beziehungen sehen, die alles andere als gesund sind; Beziehungen, in denen sich die Partner gegenseitig beschuldigen, in persönliche, niedere Dramen verstrickt sind oder sogar einer den anderen schlägt. Es lohnt sich daher, wirklich einmal im Detail schonungslos ehrlich zu beschreiben, wie Deine Mutter Deinen Vater und Dein Vater Deine Mutter in Deiner Gegenwart behandelt und dargestellt hat. Das funktioniert gleichermaßen, wenn Du andere Rollenvorbilder hattest.

Experiment: Welches Rollenvorbild hattest Du?
Schreib einmal auf, wer für Dich in Sachen Beziehung Deine Rollenvorbilder waren. Schreibe zusätzlich unter jeden Namen präzise auf, wie dieses vermeintliche Vorbild in Deiner Gegenwart agiert hat und wie sie das jeweils andere Geschlecht dargestellt oder behandelt hat.

Im nächsten Schritt geht es darum, radikal ehrlich zu sein und folgende Frage zu beantworten: Welche dieser Muster und Gewohnheiten projizierst Du heute auf Deinen Partner/Deine Partnerin? Sei ehrlich und schreib es auf. Bewusstheit darüber schafft Klarheit und neue Möglichkeiten für Deine Beziehung.

Es gibt noch einen weiteren Fall, der Beachtung verdient. Wenn Deine Eltern nicht zu einem der oberen Extreme gehörten, könntest Du dazu geneigt haben, Deine Mutter oder Deinen Vater als Ideal gesehen und auf ein Podest gestellt zu haben.

Der Traum vom Ideal
Wenn Du ein Mann bist und deine Mutter die „ideale“ Frau war, dann kann es passieren, dass Du
unbewusst jede Frau, die Dir begegnet und mit der Du eine Beziehung eingehen möchtest, zunächst einmal mit Deiner Mutter vergleichst. Wenn Du Deine Mutter abgöttisch liebst kann es passieren, dass Du eine Frau wählst, die Deiner Mutter möglichst nahe kommt. Das Problem, das dann entstehen kann, ist, dass Du in dem Fall zwar möglicherweise eine Beziehung mit einer Frau hast, die Deiner Mutter ähnlich ist, doch Du wirst ihr nicht die Menge an Liebe zu Teil werden lassen können, die eine Königin an Deiner Seite verdient, weil Deine große Liebe Deine Mutter ist. Du kannst zwar mit Deiner Freundin Sex haben, aber das nicht mit aufrichtiger Liebe und 100%iger Aufmerksamkeit kombinieren. Genau das wäre jedoch eine der Voraussetzungen für eine außergewöhnliche Beziehung.

Gleiches gilt umgekehrt für Frauen, die ihren Vater als Ideal sehen. Sie suchen in einem Mann das Ideal des Vaters, sehen jedoch nicht den Mann respektvoll als das, was er tatsächlich ist: einzigartig und nicht perfekt.

Die Suche nach dem Ideal kann übrigens auch dann passieren, wenn die Eltern eines der beiden oben beschriebenen Extreme verkörpert haben. In dem Fall gestaltet sich das Ideal jedoch etwas anders. Das Ideal basiert dann auf Träumereien oder Idealvorstellungen, die uns die Medien vermitteln (d. h. wie eine Frau/ein Mann zu sein hat, mit Fokus auf Besitztümer, Aussehen und Statuspositionen). Als Frau suchst Du dann einen Mann der dieses vermeintliche Ideal darstellt, das Dein Vater nicht war bzw. als Mann suchst Du eine vermeintlich ideale Frau, die Deine Mutter eben nicht war.

Egal, um welche Art von Ideal es sich handelt: es ist in jedem Fall eine Illusion. Die Suche oder das Streben nach einem Ideal hält uns davon ab, authentisch menschlich mit einem anderen Menschen in Beziehung zu sein.

Ein möglicher Ausweg
Es ist möglich aus diesen Mustern auszusteigen. Normalerweise sind wir im Alter von ca. 15 Jahren dazu entworfen, einen Initiationsprozess ins Erwachsensein zu durchlaufen. Im Gegensatz zu einigen indigenen Kulturen, stellt die moderne Kultur diese Art Initiation jedoch nicht zur Verfügung. Somit bleiben wir meist im Kindheitsmodus stecken, nicht nur was Beziehungsmuster und Rollenvorbilder angeht, sondern generell in Bezug auf das Thema Verantwortung. Ein authentischer Initiationsprozess beinhaltet u. a., dass sich Frauen wie Männer ihre Kraft und Autorität von den Eltern zurückholen und die alten, kopierten und unbewusst laufenden Verhaltens- und Überlebensprogramme ändern. Männer würden beispielsweise in einem sicheren Trainingsumfeld zum einen „ihre Eier von ihrer Mutter zurückholen“ – um es ganz direkt und flapsig in Gorilla-Sprache auszudrücken. Das bedeutet, dass sie in einem Wutprozess ihre Kraft wieder in Besitz nehmen und sich energetisch klar von ihrer Mutter abgrenzen. Zum anderen würden sie sich – falls notwendig – energetisch auch von ihrem Vater abgrenzen. Dadurch kommen sie in ihre männliche Kraft und lernen klare, gesunde Grenzen zu setzen, damit sie den Raum für eine außergewöhnliche Beziehung mit einer Frau halten können.

Frauen würden in einem sicheren Trainingsumfeld umgekehrt das nette, angepasste Mädchen das Klo hinunterspülen und sich ihr Zentrum – also ihre Autorität – von ihrem Vater zurückholen und sich energetisch von ihrer Mutter lösen. (In beiden Fällen – also für Männer und Frauen – bedeutet das NICHT, dass sie ihre Eltern nicht lieben oder sie nicht mehr sehen. Es handelt sich vielmehr um eine Loslösung auf energetischer Ebene, um kraftvoll als erwachsener Mann bzw. Frau das eigene Leben leben zu können). Eltern haben meist nur das Beste für ihre Kinder im Sinn und es ist natürlich, dass wir als Kinder zunächst einmal unsere Autorität an die Eltern oder andere Rollenvorbilder abgeben und uns an ihnen orientieren. Um jedoch außergewöhnliche Beziehung (im Gegensatz zu gewöhnlicher Beziehung) in jedem Moment verantwortlich neu erschaffen zu können, ist es notwendig, Deine Gefühle und Deine Autorität in Besitz zu nehmen und Dein Bewusstsein zu schärfen. Außergewöhnliche Beziehung ist ein fortwährender, bewusster Akt nichtlinearen Kreierens, bei dem Du Deinen Partner als das siehst, was er ist: einzigartig.

Herzliche Grüße,
Nicola Nagel

Tipp: weitere ausführliche Details zum Erschaffen von außergewöhnlicher Beziehung findest Du im Buch „Wahre Liebe im Alltag“ von Clinton Callahan


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