Sonntag, 14. November 2010

Stell Dir vor, es gibt kein Problem...

Ja, was dann? Was machen Sie, wenn es kein Problem gibt?

Neulich war ich Zeugin einer beispielhaften Situation, wie sie sich leider nur allzu oft in unserem täglichen Leben abspielt. Ich bezeichne es gerne als den ganz alltäglichen Wahnsinn. Ich war unterwegs in einer Stadt, wo ich ein Hotelzimmer gebucht hatte. Als ich im Hotel ankam, standen 3 Gäste an der Rezeption und es schien zunächst alles friedlich. Mit einem Mal jedoch entstand aus dem Nichts heraus eine unglaubliche Diskussion zwischen den 3 Gästen und der Dame an der Rezeption. Es ging darum, dass die 3 Gäste zu einer Reisegruppe von 10 Personen gehörten, die 3 Doppelzimmer, 1 Dreibettzimmer und 1 Einzelzimmer bestellt hatten. Die Dame an der Rezeption erklärte ihnen, dass ein Doppelzimmer bereits bezogen sei und somit noch 2 Doppelzimmer, 1 Dreibettzimmer und ein 1 Einzelzimmer zu vergeben seien. Aufgrund der unterschiedlichen Formulierung gingen die Gäste nun davon aus, dass es ein Zimmer zu wenig gab und beschuldigten die Rezeptionsdame, falsch reserviert zu haben. Ich betrachtete die Diskussion aus 2 Meter Entfernung und war fasziniert, denn alle sprachen vom Gleichen und trotzdem suhlten sie sich in einem Problem. Plötzlich schauten mich alle an. Ich sagte „Hallo! Möchten Sie Klarheit?“ Vier entgeisterte Augenpaare schauten mich an und ich hörte schließlich ein „Ja!“. Ich fragte also die Gäste, wie viele Zimmer sie bestellt hatten. „Fünf“, war die Antwort. Schließlich fragte ich die Rezeptionsdame, wie viele Zimmer sie für die Reisegruppe reserviert hatte und wie viele davon bereits bezogen seien. „Fünf und davon ist eines bereits bezogen.“ Also stellte ich die gewagte Frage: „Wo ist dann das Problem?“ Totenstille. Es gab keins. Kaum waren jedoch einige Sekunden der Stille verstrichen, in der alle einfach friedlich miteinander sein konnten, sagte einer der Gäste: „Ja dann ist doch alles gut. Warum regen Sie (Rezeptionsdame) sich denn so auf?“ Und schon ging es von vorne los mit einer neuen Diskussion.

Sie lachen jetzt vielleicht und sagen „Oh je, wie können die nur so ein Problem kreieren, wenn keines da ist.“ Aber mal ehrlich, Hand auf’s Herz: Kennen Sie so etwas aus Ihrem Alltag nicht auch? Passiert es Ihnen gelegentlich, dass Sie mit jemandem über ein Problem diskutieren und hinterher gar nicht mehr wissen, wo eigentlich das Problem war? Oder passiert es Ihnen sogar, dass Ihnen jemand anderes von einem Problem erzählt und Sie meinen, es lösen zu müssen? Seien Sie ehrlich. Wie oft übernehmen Sie ein Problem von Ihrem Partner, ihrer besten Freundin, ihrem Kind, ihren Eltern, ihrem Chef, oder ihrem Kollegen? Wie oft machen Sie ein Problem einer anderen Person zu Ihrem eigenen und verpulvern damit Ihre wertvolle Energie und Zeit?

Probleme sind nicht einfach da. Probleme haben immer einen Besitzer. Eine unglaubliche Leichtigkeit kann in Ihrem Leben Einzug halten, wenn Sie sich bewusst machen, wer eigentlich ein Problem hat. Es gibt drei Varianten:

1) ICH HABE EIN PROBLEM
Wenn Sie erkennen, dass Sie ein Problem haben, dann können Sie damit machen, was Sie wollen. Sie können es lösen, sie können es wunderbar ausschmücken oder verdrängen. Sie können um Hilfe bitten oder es alleine lösen. Vor allem aber können Sie es so lange behalten wie Sie wollen. Sie können sich tage- oder wochenlang darin suhlen und anderen vorjammern, wie schlecht es Ihnen geht, oder Sie können Verantwortung übernehmen und es in kürzester Zeit lösen und dann einfach zur nächsten Herausforderung übergehen. Es liegt ganz bei Ihnen, was Sie mit dem Problem machen.

2) DER ANDERE HAT EIN PROBLEM
Jetzt wird es schon spannender, vor allem wenn eine Person in unserem näheren Umfeld ein Problem hat. Wir sind oft sehr schnell versucht, dem anderen zu helfen. Wir wollen doch nur das Beste für ihn. Vergessen Sie es! Wenn Sie einer Person helfen, ohne dass sie darum gebeten hat, dann retten Sie diese Person. Retten ist das Anbieten von ungefragter Hilfe und das ist gegenüber der Person, die ein Problem hat, absolut respektlos. Damit signalisieren Sie der Person unbewusst, dass sie das Problem selbst nicht lösen kann und Sie es deswegen für sie tun. Eltern retten gerne ihre Kinder: „Komm mal her, den Pullover zieht man doch anders an!“. Und in einer Beziehung rettet der eine Partner gerne den anderen: „Schatz, lass mal. Ich drehe die Glühbirne schon rein.“

Hier ist ein neuer Ansatz:
Wenn Sie erkennen, dass jemand anderes ein Problem hat, dann lassen sie ihn sein Problem haben. Für Sie bleibt in dem Moment nichts mehr zu tun. Oftmals treffen wir diese Unterscheidung nicht. Machen Sie sich klar, dass die andere Person hart für ihr Problem gearbeitet hat. Jedes Problem ist die Aufforderung, im Leben zu lernen und sich dadurch weiterzuentwickeln. Wenn Sie jetzt das Problem der anderen Person lösen, dann muss diese sich ein neues Problem erschaffen, um das zu lernen, was sie zu lernen hat. Das ist der Effekt, wenn jemand immer wieder die gleichen Situationen im Leben anzieht. Das passiert so lange, bis er oder sie das Problem endlich angeschaut und gelöst hat.

Was einige Menschen, die ein Problem haben, sehr gerne machen, ist die stolze Präsentation des Problems. Haben Sie das schon einmal erlebt? Sie treffen sich mit einem Freund und das erste, was er macht ist, er holt sein Problem aus der Glasvitrine. Sobald er dann unsere ungeteilte Aufmerksamkeit hat, fängt er an, sein Kunstwerk zu präsentieren, es auszuschmücken und zu erweitern, sodass es den ganzen Raum einnimmt („Stell Dir vor, was mir passiert ist….“). Die größte Genugtuung erhält er durch die Bewunderung und Anteilnahme von uns. Und wehe wir zeigen keine Wertschätzung für das Problem.

Noch einmal Hand auf’s Herz: wie oft haben Sie selbst schon ihre Probleme anderen präsentiert um Mitleid oder Zuneigung einzuheimsen?

Jetzt höre ich einige schon empört sagen: „Ja, Moment mal, ich muss dem anderen doch helfen. Ich kann doch nicht einfach nichts tun und die kalte Schulter zeigen.“ Ja, Sie haben absolut Recht und es gibt einen Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl. Ein verantwortlicher, mitfühlender Weg mit Problemen anderer umzugehen, ist ihnen zuzuhören. Und zwar nur das! Keine Lösungsvorschläge, keine Diskussion, keine Ratschläge. Seien Sie einfach nur mit dem anderen und hören Sie ihm zu.

„Ja und wenn der andere mich bittet, ihm zu helfen?“, fragen Sie sich jetzt vielleicht. Das ist ein sehr guter Punkt. Wenn der andere Sie um Hilfe bittet, entsteht eine neue Situation. Wenn er Sie bittet, haben Sie ein Problem und können wieder entscheiden, was Sie damit machen. Sie können zustimmen, ihm zu helfen, oder Sie können nein sagen. Dann retten Sie auch nicht, denn der andere hat Sie um Hilfe gebeten.

Ich ertappe mich oft, dass ich eine ganz einfache Lösung für ein Problem einer anderen Person sehe, sie aber nicht respektlos retten möchte. In dem Fall höre ich erst einmal nur zu und frage, nachdem die Person mit dem Erzählen fertig ist: „Möchtest Du eine Möglichkeit haben?“ Erst wenn sie darauf hin „Ja“ sagt, lege ich die Möglichkeit dar.

So, das waren jetzt 2 Varianten des Problembesitztums. Ich habe ein Problem, oder der andere hat ein Problem. Was denken Sie ist die dritte Möglichkeit?

Wenn ich diese Frage gelegentlich stelle, höre ich oft als Antwort „WIR haben ein Problem.“ BIEP! Diese Illusion muss ich Ihnen leider nehmen. Es gibt kein „WIR“, wenn es um Verantwortung geht. Entweder habe ich ein Problem und muss es lösen, oder der andere. Die Floskel „wir haben ein Problem“ finden Sie besonders häufig in Unternehmen. Kennen Sie das? Sie sitzen in einem Meeting, das Problem wird präsentiert und dann heißt es: „Ja, dann müssen wir das lösen.“ Wenn ich in solch einem Meeting anwesend bin, ist meine erste Frage: „Wer ist wir?“ Ehrlich, „wir müssen es lösen“ ist gleichbedeutend mit „keiner übernimmt die Verantwortung“. Es gibt kein „Wir“ wenn es um Verantwortung geht.

Das als kleiner Exkurs. Wir waren jedoch bei der dritten Möglichkeit des Problembesitztums. Die dritte Variante lautet:

3) ES GIBT KEIN PROBLEM
Ja, können Sie sich das vorstellen? Das ist die Zeit, die Gesellschaft der anderen einfach zu genießen. Kein Problem zu haben ist unser ursprünglicher Seins-Zustand. Tibetanische Mönche nennen diesen Zustand „Grundlegendes Gutsein“. Was passiert jedoch, wenn es kein Problem gibt? Es entsteht Nähe, Verbundenheit, Vertrautheit und Intimität. Oft verweilen wir nicht lange an dem Ort, wo es kein Problem gibt, denn dieser Zustand kann sehr intensiv werden. Um zu große Intensität zu vermeiden ist unser Gremlin (das kleine Monster in jedem von uns, das z. B. kleine Witze über andere reißt) sehr findig. Er kann sofort ein Problem aus dem Nichts erzeugen, zu jeder Zeit und ohne Grund. Für den Gremlin ist ein Zustand ohne Problem ein echtes Problem. Der Gremlin liebt es, Nähe und Vertrautheit zu zerstören.

Ich möchte Sie gerne zu zwei Experimenten einladen:

Experiment 1:
Wenn Sie sich das nächste Mal in einer Problemsituation befinden, beobachten Sie die Situation einmal von außen, so als würden Sie ein Augenpaar seitlich außerhalb Ihres Kopfes positionieren und sich selbst und die Situation mit Abstand betrachten. Schauen Sie genau hin und machen Sie sich bewusst, wer gerade das Problem hat. Haben Sie ein Problem? Hat jemand anderes ein Problem? Oder gibt es gar kein Problem? Hat Ihr Gremlin vielleicht nur schnell ein Pseudo-Problem aus dem Hut gezaubert, um zu viel Nähe mit der anderen Person zu vermeiden? Machen Sie sich jederzeit das Problembesitztum klar, egal ob Sie mit Ihrem Partner diskutieren, Ihr Chef Sie anblökt oder die Kinder gerade brüllen, weil Sie das Eis nicht bekommen (in dem Fall ist es z. B. das Problem des Kindes, das lernen muss, Ihre Grenze zu akzeptieren. Es ist NICHT ihr Problem, also lassen Sie das Kind toben und halten Sie den Wutanfall aus).

Experiment 2:
Wie erwähnt kann ein Zustand ohne Problem sehr intensiv werden. Dieses Experiment dient dazu eine höhere Intensität im Miteinander aushalten zu können und dadurch eine neue Qualität in Ihren Beziehungen zu erlangen. Suchen Sie sich für dieses Experiment Ihren Partner aus oder eine gute Freundin bzw. einen guten Freund. Setzen Sie sich auf dem Boden oder auf dem Stuhl gegenüber. Es ist hilfreich, wenn nichts zwischen Ihnen steht. Setzen Sie sich so nah wie möglich zusammen, achten Sie jedoch drauf, dass sich Ihre Knie oder Hände nicht berühren. Suchen Sie sich ein Auge Ihres Gegenübers aus. Schauen Sie nun der Person 5 Minuten lang in das Auge. Schauen Sie direkt in die Pupille. Wechseln Sie nicht zwischen den Augen hin und her. Wir sind das nicht gewohnt. Oftmals schauen wir einer Person, die wir treffen auf die Stirn oder die Nase. Schauen Sie diesmal direkt in die Pupille. Sprechen Sie während der 5 Minuten nicht und lachen Sie auch nicht. Nach einigen Sekunden werden Sie vielleicht versucht sein, kurz wegzuschauen, oder Sie verspüren Angst aufgrund der großen Nähe. Nehmen Sie dies wahr, atmen Sie tief ein und aus und erliegen Sie nicht der Versuchung wegzuschauen. Halten Sie es aus. Wenn Sie diesen Punkt überwinden, werden Sie erstaunt sein, was sich Ihnen plötzlich offenbart und was Sie über die andere Person alles erfahren, ohne dass ein Wort gesprochen wird. Sie können die Person wahrhaftig sehen, wie sie ist, ohne die sonst übliche Maske. Bedanken Sie sich nach 5 Minuten bei Ihrem Gegenüber und tauschen Sie sich kurz über Ihre Erfahrungen aus. Verabreden Sie sich dann für die nächsten Tage, um das Experiment mehrmals zu wiederholen und spüren Sie, wie es für Sie „normaler“ wird, mit jemandem einfach zu sein, ohne ein Problem zu haben.

In diesem Sinne, genießen Sie es, einfach mal kein Problem zu haben.

Herzliche Seins-Grüße,

Ihre Nicola Nagel

www.viva-essenza.com