Immer wieder begegne ich
Menschen, die sich Verletzlichkeit, Nähe und Authentizität in Beziehung
wünschen, doch gleichzeitig damit ringen. Dabei ist es unerheblich, ob es sich
um eine Paar-Beziehung, Beziehung zu Freunden oder sogar um Beziehung zu
Kollegen handelt. Scheinbar ist Verletzlichkeit eine delikate Angelegenheit,
wird sie doch in der modernen Gesellschaft oftmals als Schwäche, ja sogar als
Tabu bezeichnet. Das Thema scheint ein einziges Paradox zu sein. Die Menschen wünschen
sich tiefen, authentischen, verletzlichen Kontakt, doch der Schritt dahin, die
Maske tatsächlich abzulegen und sich verletzlich zu zeigen, scheint gefährlich.
Das ist nicht verwunderlich, werden die meisten doch tagtäglich darin gedrillt,
ihre persönlichen Gefühle und ihr Herz an der Eingangstür des Unternehmens, für
das sie arbeiten, abzulegen und den ganzen Tag lang eine professionelle,
sterile Maske zu tragen. Unsere Gesellschaft unterstützt das Vorgehen des
einsamen Wolfes: alles im Griff haben, bloß nicht verletzlich oder angreifbar
sein. Wen wundert es da, dass es vielen Menschen auch im Privatleben
letztendlich schwer fällt, sich verletzlich zu zeigen. Das Spiel, das im Job so
meisterlich gespielt wird und bei dem es oftmals darum geht, die eigene
Position zu festigen und zu verteidigen, wird leider allzu häufig auf den
privaten Bereich übertragen. Oder aber das Gegenteil passiert: Gerade weil im
Job ein stressiges und nicht selten rauhes Umfeld herrscht, versuchen die ein
oder anderen im privaten Bereich alles schön harmonisch zu gestalten –
zumindest oberflächlich – und lieber alles beim Alten laufen zu lassen.
Beides ist jedoch nicht
authentisch und verhindert letztendlich Nähe, Vertrautheit und Kontakt. Obwohl
der Wunsch und die Sehnsucht nach authentischem Kontakt da ist, warten die
meisten in der Regel erst einmal ab, ob nicht die andere Person vielleicht den
ersten Schritt macht und die Tür zu mehr Vertrautheit öffnet. Was viele
Menschen von mehr Verletzlichkeit und Nähe abhält, ist nichts anderes als
Angst. Angst davor, zurückgewiesen zu werden, als schwach deklariert zu werden,
oder als „Depp“ da zu stehen, denn schließlich können Sie ja nicht wissen, wie
der andere reagiert, wenn Sie sich verletzlich zeigen. Mit der gewöhnlichen Einstellung,
dass Angst nicht okay sondern bitteschön zu vermeiden ist, begeben wir uns
somit in einen fortwährenden Eiertanz zwischen „soll ich?“ oder „soll ich
nicht?“ bzw. „Hach ich würd ja gerne, aber…“
Die alte, gängige Sichtweise
auf Verletzlichkeit in der modernen Gesellschaft ist, dass Verletzlichkeit gar nicht
angemessen bzw. nur in extrem „großen“ Momenten angemessen ist. Solche Momente
können jene sein, in denen jemand einen großen Preis gewinnt oder eine Heldentat
vollbringt und sich berührt zeigt, oder in zerstörerischen Momenten, wenn
beispielsweise Menschen aufgrund eines Erdbebens alles Hab und Gut verlieren.
Andernfalls wird Verletzlichkeit als Schwäche gesehen. Sie ist unmännlich,
unprofessionell, etwas für Heulsusen und Weicheier. Eine Person die sich
verletzlich zeigt, ist laut gängiger Meinung nicht fähig, klare Entscheidungen
zu treffen und kann definitiv keine Führungsperson im hierarchischen
Firmenkontext sein. Wer verletzlich ist, hat sich nicht im Griff und ist
angreifbar. Soweit die Definition, die vielen bekannt sein dürfte.
Verletzlicher authentischer
Kontakt ist jedoch Herz-Nahrung. Unsere Herzen hungern nach diesem Kontakt, denn
er ermöglicht uns, dass wir gesehen werden, uns sehen lassen und auch die
andere Person wahrhaftig sehen. Sobald wir Verletzlichkeit zulassen und
ausdrücken können, zeigen wir uns in unserem wahren Sein. Bevor Sie jedoch da
hingehen können, ist es erforderlich zunächst einmal aufzuräumen mit der alten
Sichtweise in Bezug auf Verletzlichkeit.
Wie wäre es für Sie, wenn
Verletzlichkeit tatsächlich eine Stärke wäre? Wenn es einfach bedeuten würde,
dass Sie authentisch, menschlich, berührbar sind, leben und nicht
kristallisiert sind? Wie wäre es, wenn Verletzlichkeit nicht peinlich, sondern
ein Türöffner wäre? Was, wenn Sie nicht mehr der irrsinnigen Gesellschafts-Norm
entsprechen müssten, permanent eine perfekte Maske zu tragen und die Dinge
stets im Griff zu haben, sondern sich aufrichtig in Ihrem Sein zeigen könnten?
Im Folgenden finden Sie eine
Gegenüberstellung der alten und einer möglichen neuen Sichtweise.
Verletzlichkeit
– Alte Sicht
|
Verletzlichkeit
– Neue Sicht
|
Schwäche
|
Stärke
|
Weichei, Heulsuse
|
Berührbar
|
Unprofessionell
|
Menschlich
|
Unfähigkeit klare Entscheidungen zu fällen
|
Fähigkeit Entscheidungen nicht nur aus dem
Intellekt zu fällen
|
Angreifbar
|
Zugang zur Kraft der Gefühle
|
Unmännlich
|
Authentisch
|
Hat sich nicht im Griff
|
Zeugt von Nahbarkeit
|
Peinlich
|
Mutig
|
Schließt aus /
entspricht nicht der Gesellschafts-Norm |
Schließt ein / verbindet
|
Ist ein Risiko
|
Ist eine Chance,
|
Wirkt abschreckend
|
Ist ein Türöffner
|
Sich zum Deppen machen
|
Das eigene Sein zeigen
|
Zu vermeiden
|
Herz-Nahrung
|
Gefährlich
|
Entspannend, nährend, erfüllend.
|
Sich verletzlich zu zeigen, erfordert Mut. Wenn Sie zulassen, dass die Angst in dem Moment, in dem Sie die Möglichkeit haben die Tür zu mehr authentischem Kontakt zu öffnen, Sie im Griff hat und blockiert, dann werden Sie mit großer Wahrscheinlichkeit die Gelegenheit verstreichen lassen. Sie können jedoch auch eine neue Haltung einnehmen. Diese könnte folgendermaßen lauten:
Mut ist die Entscheidung, dass etwas anderes wichtiger ist, als die Angst!
Das bedeutet nicht, dass Sie keine Angst mehr
spüren. Im Gegenteil. Es ist sogar angemessen und wertvoll, dass Sie Angst
spüren, wenn Sie dabei sind, sich verletzlich zu zeigen, denn die Angst ist in
dem Fall ein Indikator, dass Sie neues, unbekanntes Gebiet betreten. Sie können
die Angst somit als Hinweis nutzen und gleichzeitig entscheiden, dass
authentischer, verletzlicher Kontakt zu der anderen Person wichtiger ist, als
die Angst. Sie haben in dem Moment die Chance, Ihre Beziehung zu der anderen
Person auf eine völlig neue Ebene zu bringen. Was könnte wichtiger sein?
Sie haben öfter die
Möglichkeit, sich verletzlich zeigen, als Sie meinen. Beispielsweise wenn Sie:
·
aufrichtig
teilen, wie es Ihnen gerade geht (anstatt pauschal mit „gut“ zu antworten)
·
ein neues
Experiment in Intimität mit Ihrem Partner ausprobieren möchten und dies
ansprechen.
·
nicht wissen,
wie etwas geht und dies aufrichtig mitteilen.
·
über Ihre
Gefühle sprechen und klar sagen „Ich fühle mich wütend, ängstlich, traurig,
froh, weil...
·
jemanden um
Verzeihung bitten
·
eine andere
Person um Hilfe bitten.
·
Ihre Wünsche
mitteilen.
·
sagen, was für
Sie nicht in Ordnung ist.
Kürzlich zeigte sich
beispielsweise ein Mann in einem Training absolut verletzlich, indem er
aufrichtig unter Tränen seine Traurigkeit ausdrückte. Seine Partnerin, die
ebenfalls anwesend war, äußerte danach „Das ist das erste Mal, dass ich Dich
weinen sehe“. Beide konnten spüren, dass dieser verletzliche Moment ein
Türöffner für eine neue Ebene in ihrer Beziehung war.
Eine Möglichkeit für
authentischen, verletzlichen Kontakt wäre auch, dass Sie gegenüber einem guten
Freund oder einer guten Freundin Themen ansprechen, die Sie beschäftigen, die
aber möglicherweise in der Gesellschaft tabu sind. Beispielsweise gibt es
intime Themenbereiche wie z. B. Sexualität, die wir alle teilen, die jedoch
niemand wirklich wagt anzusprechen. So grübelt jeder für sich in seinem Hirn darüber
nach, oder versucht Informationen aus irgendwelchen Zeitschriften zu erhaschen,
anstatt dass wir uns einer vertrauten Person mitteilen, uns gegenseitig
unterstützen und dadurch gemeinsam das Experiment in Vertrautheit und authentischem
Kontakt machen.
Ich hatte kürzlich das große
Glück, mit einer sehr lieben Freundin genau darüber zu sprechen. Jede von uns
zeigte sich mehr und mehr verletzlich und schließlich vereinbarten wir, das
Experiment zu machen, authentisch verletzlich über ur-weibliche Themen zu
sprechen. Eine freudige Aufgeregtheit war spürbar und gleichzeitig machte sich
eine unglaubliche Entspannung breit. Hatte ich Angst? Ja! Doch das Spannende
ist, dass diese Angst verschwindet, sobald Sie diese als Hinweis zu einem
neuen, unbekannten Gebiet nutzen und den Schritt ins „Leere“ wagen. In dem
Moment, in dem Sie den Schritt über die bekannte Grenze hinaus wagen, werden
Sie feststellen, dass sich plötzlich neuer Boden unter Ihren Füßen auftut. Sie
müssen einfach nur weiter atmen und werden dann feststellen, dass Ihr Herz
genährt wird, wenn Sie in verletzlichen Kontakt treten und Sie werden das
Geschenk einer völlig neuen Qualität Ihrer Beziehungen erleben.
Sie müssen noch nicht einmal
wissen, wie es geht. Allein Ihre Absicht, authentischen, verletzlichen Kontakt
zu kreieren, wird Ihnen ermöglichen, den Schritt ins Unbekannte zu gehen.
Experiment:
Überlegen Sie einmal, mit wem Sie gerne authentischeren und verletzlicheren Kontakt hätten. Ist es Ihr Partner, eine Freundin, jemand in Ihrer Familie?
Überlegen Sie einmal, mit wem Sie gerne authentischeren und verletzlicheren Kontakt hätten. Ist es Ihr Partner, eine Freundin, jemand in Ihrer Familie?
Wie würde dieser Kontakt
aussehen? Über welche Themen würden Sie mit der Person gerne sprechen?
Das Experiment besteht
darin, den ersten Schritt in verletzlichem, authentischem Kontakt mit dieser
Person in der Form zu wagen, dass Sie das Gespräch vom gewöhnlichen Modus in
neues Gebiet lenken. Ein Anführer in authentischem Kontakt ist derjenige, der
den Schritt ins Unbekannte wagt und sich als erster verletzlich zeigt. Eine
Möglichkeit ist, dass Sie authentisch etwas von sich teilen und Gesprächs-Starter
nutzen, wie z. B.:
- „Was mich gerade beschäftigt ist….“
- „Heute fühle ich mich…, weil…. Wie geht es Dir?
- „Hast Du Dich auch schon einmal gefragt….“
- „Kennst Du das, wenn….“
Sie können auch über Ihre
Angst sprechen, sich verletzlich zu zeigen und fragen, wie es der anderen
Person geht „Hast Du Dir darüber schon einmal Gedanken gemacht?“ Sie werden
erstaunt sein, wie schnell das Gespräch eine völlig neue Dimension annimmt und
weg geht vom üblichen „Wie geht’s, wie läuft’s, was machst Du so, wie war Dein
Tag.“
Wenn Sie Experimente in
verletzlichem Kontakt machen, achten Sie jedoch auch auf das Timing. Wenn Ihr
Partner oder Ihre Freundin gerade mit etwas anderem beschäftigt oder auf dem Weg zu einem Termin ist, wäre
das kein guter Zeitpunkt. Achten Sie darauf, dass Sie in entspannter Atmosphäre
sind, beide Zeit haben und der andere auch gerade gesprächsbereit ist.
Verletzlicher Kontakt ist
ein großes Geschenk, das unsere Herzen nährt, uns wärmt und verbindet. Ich
wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie so viele Gelegenheiten wie möglich kreieren
und erleben.
Herzlich verletzliche Grüße,
Ihre Nicola Nagel
CREATING POSSIBILITIES!
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