Sonntag, 16. November 2014

Verletzlichkeit in Beziehung



Immer wieder begegne ich Menschen, die sich Verletzlichkeit, Nähe und Authentizität in Beziehung wünschen, doch gleichzeitig damit ringen. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um eine Paar-Beziehung, Beziehung zu Freunden oder sogar um Beziehung zu Kollegen handelt. Scheinbar ist Verletzlichkeit eine delikate Angelegenheit, wird sie doch in der modernen Gesellschaft oftmals als Schwäche, ja sogar als Tabu bezeichnet. Das Thema scheint ein einziges Paradox zu sein. Die Menschen wünschen sich tiefen, authentischen, verletzlichen Kontakt, doch der Schritt dahin, die Maske tatsächlich abzulegen und sich verletzlich zu zeigen, scheint gefährlich. Das ist nicht verwunderlich, werden die meisten doch tagtäglich darin gedrillt, ihre persönlichen Gefühle und ihr Herz an der Eingangstür des Unternehmens, für das sie arbeiten, abzulegen und den ganzen Tag lang eine professionelle, sterile Maske zu tragen. Unsere Gesellschaft unterstützt das Vorgehen des einsamen Wolfes: alles im Griff haben, bloß nicht verletzlich oder angreifbar sein. Wen wundert es da, dass es vielen Menschen auch im Privatleben letztendlich schwer fällt, sich verletzlich zu zeigen. Das Spiel, das im Job so meisterlich gespielt wird und bei dem es oftmals darum geht, die eigene Position zu festigen und zu verteidigen, wird leider allzu häufig auf den privaten Bereich übertragen. Oder aber das Gegenteil passiert: Gerade weil im Job ein stressiges und nicht selten rauhes Umfeld herrscht, versuchen die ein oder anderen im privaten Bereich alles schön harmonisch zu gestalten – zumindest oberflächlich – und lieber alles beim Alten laufen zu lassen. 

Beides ist jedoch nicht authentisch und verhindert letztendlich Nähe, Vertrautheit und Kontakt. Obwohl der Wunsch und die Sehnsucht nach authentischem Kontakt da ist, warten die meisten in der Regel erst einmal ab, ob nicht die andere Person vielleicht den ersten Schritt macht und die Tür zu mehr Vertrautheit öffnet. Was viele Menschen von mehr Verletzlichkeit und Nähe abhält, ist nichts anderes als Angst. Angst davor, zurückgewiesen zu werden, als schwach deklariert zu werden, oder als „Depp“ da zu stehen, denn schließlich können Sie ja nicht wissen, wie der andere reagiert, wenn Sie sich verletzlich zeigen. Mit der gewöhnlichen Einstellung, dass Angst nicht okay sondern bitteschön zu vermeiden ist, begeben wir uns somit in einen fortwährenden Eiertanz zwischen „soll ich?“ oder „soll ich nicht?“ bzw. „Hach ich würd ja gerne, aber…“

Die alte, gängige Sichtweise auf Verletzlichkeit in der modernen Gesellschaft ist, dass Verletzlichkeit gar nicht angemessen bzw. nur in extrem „großen“ Momenten angemessen ist. Solche Momente können jene sein, in denen jemand einen großen Preis gewinnt oder eine Heldentat vollbringt und sich berührt zeigt, oder in zerstörerischen Momenten, wenn beispielsweise Menschen aufgrund eines Erdbebens alles Hab und Gut verlieren. Andernfalls wird Verletzlichkeit als Schwäche gesehen. Sie ist unmännlich, unprofessionell, etwas für Heulsusen und Weicheier. Eine Person die sich verletzlich zeigt, ist laut gängiger Meinung nicht fähig, klare Entscheidungen zu treffen und kann definitiv keine Führungsperson im hierarchischen Firmenkontext sein. Wer verletzlich ist, hat sich nicht im Griff und ist angreifbar. Soweit die Definition, die vielen bekannt sein dürfte. 

Verletzlicher authentischer Kontakt ist jedoch Herz-Nahrung. Unsere Herzen hungern nach diesem Kontakt, denn er ermöglicht uns, dass wir gesehen werden, uns sehen lassen und auch die andere Person wahrhaftig sehen. Sobald wir Verletzlichkeit zulassen und ausdrücken können, zeigen wir uns in unserem wahren Sein. Bevor Sie jedoch da hingehen können, ist es erforderlich zunächst einmal aufzuräumen mit der alten Sichtweise in Bezug auf Verletzlichkeit. 

Wie wäre es für Sie, wenn Verletzlichkeit tatsächlich eine Stärke wäre? Wenn es einfach bedeuten würde, dass Sie authentisch, menschlich, berührbar sind, leben und nicht kristallisiert sind? Wie wäre es, wenn Verletzlichkeit nicht peinlich, sondern ein Türöffner wäre? Was, wenn Sie nicht mehr der irrsinnigen Gesellschafts-Norm entsprechen müssten, permanent eine perfekte Maske zu tragen und die Dinge stets im Griff zu haben, sondern sich aufrichtig in Ihrem Sein zeigen könnten?

Im Folgenden finden Sie eine Gegenüberstellung der alten und einer möglichen neuen Sichtweise. 

Verletzlichkeit – Alte Sicht
Verletzlichkeit – Neue Sicht
Schwäche
Stärke
Weichei, Heulsuse
Berührbar
Unprofessionell
Menschlich
Unfähigkeit klare Entscheidungen zu fällen
Fähigkeit Entscheidungen nicht nur aus dem Intellekt zu fällen
Angreifbar
Zugang zur Kraft der Gefühle
Unmännlich
Authentisch
Hat sich nicht im Griff
Zeugt von Nahbarkeit
Peinlich
Mutig
Schließt aus /
entspricht nicht der Gesellschafts-Norm
Schließt ein / verbindet
Ist ein Risiko
Ist eine Chance,
Wirkt abschreckend
Ist ein Türöffner
Sich zum Deppen machen
Das eigene Sein zeigen
Zu vermeiden
Herz-Nahrung
Gefährlich
Entspannend, nährend, erfüllend.

Sich verletzlich zu zeigen, erfordert Mut. Wenn Sie zulassen, dass die Angst in dem Moment, in dem Sie die Möglichkeit haben die Tür zu mehr authentischem Kontakt zu öffnen, Sie im Griff hat und blockiert, dann werden Sie mit großer Wahrscheinlichkeit die Gelegenheit verstreichen lassen. Sie können jedoch auch eine neue Haltung einnehmen. Diese könnte folgendermaßen lauten:

Mut ist die Entscheidung, dass etwas anderes wichtiger ist, als die Angst!

Das bedeutet nicht, dass Sie keine Angst mehr spüren. Im Gegenteil. Es ist sogar angemessen und wertvoll, dass Sie Angst spüren, wenn Sie dabei sind, sich verletzlich zu zeigen, denn die Angst ist in dem Fall ein Indikator, dass Sie neues, unbekanntes Gebiet betreten. Sie können die Angst somit als Hinweis nutzen und gleichzeitig entscheiden, dass authentischer, verletzlicher Kontakt zu der anderen Person wichtiger ist, als die Angst. Sie haben in dem Moment die Chance, Ihre Beziehung zu der anderen Person auf eine völlig neue Ebene zu bringen. Was könnte wichtiger sein?

Sie haben öfter die Möglichkeit, sich verletzlich zeigen, als Sie meinen. Beispielsweise wenn Sie:

·         aufrichtig teilen, wie es Ihnen gerade geht (anstatt pauschal mit „gut“ zu antworten)
·         ein neues Experiment in Intimität mit Ihrem Partner ausprobieren möchten und dies ansprechen.
·         nicht wissen, wie etwas geht und dies aufrichtig mitteilen.
·         über Ihre Gefühle sprechen und klar sagen „Ich fühle mich wütend, ängstlich, traurig, froh, weil...
·         jemanden um Verzeihung bitten
·         eine andere Person um Hilfe bitten.
·         Ihre Wünsche mitteilen.
·         sagen, was für Sie nicht in Ordnung ist.

Kürzlich zeigte sich beispielsweise ein Mann in einem Training absolut verletzlich, indem er aufrichtig unter Tränen seine Traurigkeit ausdrückte. Seine Partnerin, die ebenfalls anwesend war, äußerte danach „Das ist das erste Mal, dass ich Dich weinen sehe“. Beide konnten spüren, dass dieser verletzliche Moment ein Türöffner für eine neue Ebene in ihrer Beziehung war. 

Eine Möglichkeit für authentischen, verletzlichen Kontakt wäre auch, dass Sie gegenüber einem guten Freund oder einer guten Freundin Themen ansprechen, die Sie beschäftigen, die aber möglicherweise in der Gesellschaft tabu sind. Beispielsweise gibt es intime Themenbereiche wie z. B. Sexualität, die wir alle teilen, die jedoch niemand wirklich wagt anzusprechen. So grübelt jeder für sich in seinem Hirn darüber nach, oder versucht Informationen aus irgendwelchen Zeitschriften zu erhaschen, anstatt dass wir uns einer vertrauten Person mitteilen, uns gegenseitig unterstützen und dadurch gemeinsam das Experiment in Vertrautheit und authentischem Kontakt machen. 

Ich hatte kürzlich das große Glück, mit einer sehr lieben Freundin genau darüber zu sprechen. Jede von uns zeigte sich mehr und mehr verletzlich und schließlich vereinbarten wir, das Experiment zu machen, authentisch verletzlich über ur-weibliche Themen zu sprechen. Eine freudige Aufgeregtheit war spürbar und gleichzeitig machte sich eine unglaubliche Entspannung breit. Hatte ich Angst? Ja! Doch das Spannende ist, dass diese Angst verschwindet, sobald Sie diese als Hinweis zu einem neuen, unbekannten Gebiet nutzen und den Schritt ins „Leere“ wagen. In dem Moment, in dem Sie den Schritt über die bekannte Grenze hinaus wagen, werden Sie feststellen, dass sich plötzlich neuer Boden unter Ihren Füßen auftut. Sie müssen einfach nur weiter atmen und werden dann feststellen, dass Ihr Herz genährt wird, wenn Sie in verletzlichen Kontakt treten und Sie werden das Geschenk einer völlig neuen Qualität Ihrer Beziehungen erleben. 

Sie müssen noch nicht einmal wissen, wie es geht. Allein Ihre Absicht, authentischen, verletzlichen Kontakt zu kreieren, wird Ihnen ermöglichen, den Schritt ins Unbekannte zu gehen. 

Experiment:
Überlegen Sie einmal, mit wem Sie gerne authentischeren und verletzlicheren Kontakt hätten. Ist es Ihr Partner, eine Freundin, jemand in Ihrer Familie?

Wie würde dieser Kontakt aussehen? Über welche Themen würden Sie mit der Person gerne sprechen? 

Das Experiment besteht darin, den ersten Schritt in verletzlichem, authentischem Kontakt mit dieser Person in der Form zu wagen, dass Sie das Gespräch vom gewöhnlichen Modus in neues Gebiet lenken. Ein Anführer in authentischem Kontakt ist derjenige, der den Schritt ins Unbekannte wagt und sich als erster verletzlich zeigt. Eine Möglichkeit ist, dass Sie authentisch etwas von sich teilen und Gesprächs-Starter nutzen, wie z. B.: 

  • „Was mich gerade beschäftigt ist….“
  • „Heute fühle ich mich…, weil…. Wie geht es Dir?
  • „Hast Du Dich auch schon einmal gefragt….“
  • „Kennst Du das, wenn….“
Sie können auch über Ihre Angst sprechen, sich verletzlich zu zeigen und fragen, wie es der anderen Person geht „Hast Du Dir darüber schon einmal Gedanken gemacht?“ Sie werden erstaunt sein, wie schnell das Gespräch eine völlig neue Dimension annimmt und weg geht vom üblichen „Wie geht’s, wie läuft’s, was machst Du so, wie war Dein Tag.“ 

Wenn Sie Experimente in verletzlichem Kontakt machen, achten Sie jedoch auch auf das Timing. Wenn Ihr Partner oder Ihre Freundin gerade mit etwas anderem beschäftigt  oder auf dem Weg zu einem Termin ist, wäre das kein guter Zeitpunkt. Achten Sie darauf, dass Sie in entspannter Atmosphäre sind, beide Zeit haben und der andere auch gerade gesprächsbereit ist.

Verletzlicher Kontakt ist ein großes Geschenk, das unsere Herzen nährt, uns wärmt und verbindet. Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie so viele Gelegenheiten wie möglich kreieren und erleben.

Herzlich verletzliche Grüße, 
Ihre Nicola Nagel

CREATING POSSIBILITIES!
www.viva-essenza.com