Dienstag, 15. März 2011

„Darf es ein bisschen mehr sein?“ - Wie Gefühle uns professionell dienen

Die Technologie ist heutzutage ja schon sagenhaft. Die meisten Dinge in unserem Leben funktionieren vollautomatisch. Morgens bekommen wir per Knopfdruck einen Espresso, dank Handy sind wir überall erreichbar, wir können im Internet einkaufen und falls wir doch einmal irgendwo hinfahren müssen, weist uns das Navigationssystem den Weg. Ist das nicht toll? Es ist so normal in unserer modernen Gesellschaft, diese ganze fortschrittliche Technologie tagtäglich einzusetzen, dass wir vollkommen vergessen haben, welch komplexe und unglaubliche Technologie wir in uns tragen.

Wie wäre es zum Beispiel für Sie, ein Navigationssystem zu haben, das Sie sicher auf Ihrem Lebensweg leitet und sogar gänzlich ohne Strom auskommt? Das klingt nach einer verrückten Idee der Zukunft? Weit gefehlt. Es ist eine der ältesten menschlichen Technologien. Sie haben dieses Navi bereits in sich, Sie müssen es nur aktivieren.

Das Navigationssystem, von dem ich spreche, sind unsere Gefühle. Sie leiten uns zielsicher durchs Leben und geben uns klare Anweisungen, was zu tun ist. Die Gefühle sagen uns zum Beispiel, ob wir eine Entscheidung treffen oder eine Grenze setzen müssen. Sie ermöglichen uns mit anderen Menschen in Kontakt zu gehen und Herzensverbindungen aufzubauen. Sie befähigen uns in Aktion zu treten, andere zu begeistern, zu führen oder auch Dinge aus dem Nichts heraus zu kreieren.

Lassen Sie uns einmal gemeinsam schauen, wie dieses Gefühls-Navi funktioniert. Welche Gefühle gibt es überhaupt? Das Tolle ist, es gibt nur VIER Gefühle (das kriegen selbst die Männer hin):

WUT - TRAURIGKEIT – FREUDE - ANGST

Dies sind sogenannte Gefühls-Territorien, die verschiedene Begriffe beinhalten können. So würde zum Beispiel der Begriff Hass in das Territorium der Wut gehören, während Nervosität oder Unsicherheit dem Bereich der Angst zuzuordnen sind. Diese 4 archetypischen, also ursprünglichen Gefühls-Territorien sind in uns fest verankert, d. h. sie gehen niemals weg.

Neulich sagte jemand zu mir: „Ja, aber genau das ist ja die Krux, dass diese Gefühle niemals weggehen. Es wäre besser, sie wären nicht da, oder wenn überhaupt dann nur die Freude.“ Die Freude darf eventuell bleiben, aber die anderen 3 Gefühle können gelöscht werden? Friede, Freude, Eierkuchen? Viel Erfolg damit. Das ist ungefähr so, als würde man uns beide Beine und einen Arm gleichzeitig amputieren. Damit lebt es sich nicht wirklich vorteilhaft.

Die Frage ist vielmehr, wieso diese Meinung in unserer Gesellschaft vorherrscht, dass es nicht okay ist, zu fühlen. Denn genau so werden wir erzogen: es ist nicht in Ordnung, die Gefühle zu zeigen. Wir haben bitte zu funktionieren, so wie es einer hoch technisierten Gesellschaft gebührt. Kürzlich hat ein Bekannter auf diese Aussage hin protestiert. Er sagte: „Moment mal, ich wage zu behaupten, dass ich sehr wohl dahin gehend erzogen wurde, dass ich Gefühle zeigen darf. Vor allem Freude, das ist doch ein positives Gefühl. Aber auch Wut, Angst und Traurigkeit darf ich zeigen. Das ist zwar nicht so konstruktiv, aber ich darf sie zeigen.“ Würden Sie ähnliches sagen? Falls ja, hier die Anschlussfrage, die ich meinem Bekannten stellte: „Es gibt also ein positives und 3 negative Gefühle?“ In dem Moment ging ihm das Licht auf, dass auch er eine verurteilende Wertung über die Gefühle in sich trug und die als negativ abgestempelten Gefühle damit nicht okay waren.

Und genau darum geht es. Die Gefühle sind in unserem Denken und in unseren Nervenzellen negativ verankert. Lassen Sie uns diese alte Sichtweise einmal anschauen.

Experiment 1: Was denken Sie über die 4 Gefühle?
Nehmen Sie einmal ein leeres Blatt Papier und malen Sie mit einem Stift ein Kreuz darauf, welches das Blatt in 4 Quadranten einteilt. Schreiben Sie ganz oben als Überschrift „4 Gefühle – Alte Sicht“. Nun beschriften Sie jeden Quadranten. Beginnen Sie oben links und schreiben Sie im Uhrzeigersinn jeweils die Gefühle Wut, Traurigkeit, Freude und Angst als Überschrift. Stellen Sie sich jetzt die Frage: „Warum ist es nicht okay, Wut zu fühlen?“ Schreiben Sie in den Wut-Quadranten, was Ihnen dazu einfällt, z. B. zerstörerisch, kindisch, usw. Nehmen Sie sich Zeit. Machen Sie dann die gleiche Übung mit den Quadranten Traurigkeit, Angst und Freude, bevor Sie diesen Artikel weiterlesen.

Na, gemogelt und einfach weitergelesen? Ich lade Sie herzlich ein, erst die Liste zu erstellen, um das Größtmögliche aus diesem Artikel zu ziehen.

Hier sind einige Gründe, warum es nicht okay ist, eines der vier Gefühle zu fühlen:

1. WUT: ist zerstörerisch, kindisch, unkontrolliert, verletzend, negativ, unseriös, unzivilisiert, nicht logisch, gefährlich, zerstört Vertrauen + Nähe, ist zu vermeiden.

2. TRAURIGKEIT: ist kindisch, albern, negativ, introvertiert, nicht cool, zieht andere runter, Heulsuse, wir sind bitteschön eine Spaßgesellschaft.

3. ANGST: ist negativ, unprofessionell, blockiert, man ist feige und wird zum Weichei oder Schattenparker deklariert, man ist schwach und im Job kann man mit so einer Qualität nicht führen.

Jetzt wird es spannend: Warum ist es nicht okay Freude zu fühlen? Was passiert, wenn Sie den ganzen Tag grinsend im Büro sitzen?

4. FREUDE: ist kindisch, albern, unprofessionell, verursacht Neid bei anderen, man ist ein Clown und nicht ernst zu nehmen, man wird gefragt „Was grinst Du denn so? Hast Du was geraucht oder hast Du heute die Nachrichten noch nicht gehört?“

Haben Sie ähnliche Begriffe auf Ihrem Blatt? Sie sehen also, es ist in unserer Gesellschaft nicht in Ordnung zu fühlen. Fakt ist jedoch, dass Gefühle an sich neutral sind und zwar so neutral wie die 4 Himmelsrichtungen auf einem Kompass. Ist Norden gut und Süden schlecht?

Lassen Sie uns einmal das wilde Experiment machen, eine andere Annahme über Gefühle zu treffen.

Experiment 2: Wie können Ihnen die Gefühle dienen?
Nehmen Sie ein neues Blatt Papier und teilen Sie es wieder in 4 Quadranten ein. Beschriften Sie die Quadranten wieder mit Wut, Traurigkeit, Angst und Freude. Schreiben Sie diesmal oben als Überschrift „4 Gefühle – Neue Sicht“. Nun lassen Sie uns eine neue Annahme treffen und schreiben Sie diese direkt unter die Überschrift. Die Annahme lautet: Gefühle sind neutrale Energie und Information, die uns professionell dienen.

Überlegen Sie nun einmal, wie Ihnen Wut, Traurigkeit, Angst und Freude in Ihrem Leben, beruflich wie privat, professionell dienen könnten. Was könnten Sie z. B. mit Wut machen? Was mit Traurigkeit? Schreiben Sie wieder in jeden Quadranten, was Sie Ihrer Meinung nach mit dem jeweiligen Gefühl verantwortlich machen könnten.

Nicht mogeln…

Hier sind einige Beispiele, wie Gefühle uns professionell dienen und was Sie konkret damit machen können.

1. WUT: Grenzen setzen, Ja/Nein sagen, etwas beginnen oder beenden, in Aktion treten, Entscheidungen treffen, Aufräumen, Verantwortung übernehmen, Klarheit schaffen.

2. TRAURIGKEIT: Dinge loslassen, kommunizieren, akzeptieren, in Kontakt mit anderen sein, Herzensverbindungen aufbauen, Mitgefühl entwickeln, Nähe und Vertrautheit zulassen, verletzlich sein.

3. ANGST: kreativ sein, Dinge aus dem nichts heraus kreieren, in unbekanntes Gebiet gehen, mich neuen Erfahrungen aussetzen, Grenzen erforschen, Gefahren erkennen, planen.

4. FREUDE: motivieren, begeistern, Menschen zusammenführen, ein Team führen, in Aktion treten, Dinge leicht nehmen, im Fluss sein, Regeln brechen, über den Tellerrand schauen.

Erstaunlich, oder? Wir haben nur eine neue Annahme getroffen und schon haben Sie eine andere Sicht auf die Gefühle. Wie wäre es für Sie, sich die neue Sicht über Gefühle zu eigen zu machen? Es ist Ihre Wahl. Sie können Opfer der Gefühle sein, oder Sie können sich die Weisheit und Kraft Ihrer Gefühle zu Nutzen machen.

Die Gefühle müssen übrigens nicht erst riesig werden, damit Sie diese für sich nutzen können. Bereits mit 3% Wut können Sie z. B. eine Grenze setzen.

Hier ein Beispiel: Eines Tages saß ich auf dem Balkon und freute mich auf einen schönen lauen Sommerabend bei 28° Celsius. Herrlich. Kaum saß ich jedoch in der Stille des Abends, brach ein unglaublicher Lärm los. Die Fenster vom Nachbarhaus standen aufgrund der Hitze weit offen, es war 20:15 Uhr und es dröhnte plötzlich „Herzlich willkommen zu der Hitparade der Volksmusik“ – ufftata, ufftata lärmte sogleich die Blasmusik vom Fernseher herüber. Und schwupp war sie da, die Wut. Auf einer Skala von 0 bis 100% lag sie bei ca. 3%. Also überlegte ich, was ich damit machen könnte. Ich könnte reingehen und die Wohnung putzen, was aufgrund des schönen Wetters nicht sehr verlockend klang. Ich könnte diese Wut aber auch verantwortlich nutzen, zu dem Nachbarn herüber gehen, den ich bis dahin nicht kannte und ihm eine Grenze setzen. Gesagt, getan. Ich ging also rüber und klingelte, was zunächst niemand hörte, weil ja die Hitparade so laut dröhnte. Nachdem ich alle Klingeln am Haus durchprobiert hatte, öffnete ein Mann mittleren Alters.

Und jetzt Achtung: Wenn Sie eine Grenze setzen, empfehle ich Ihnen, den anderen nicht gleich anzublöken und ihn auch nicht an den Pranger zu stellen, sonst ist die Kommunikation zu Ende, bevor sie begonnen hat. Erzählen Sie stattdessen von sich. Wie geht es Ihnen in dem Moment?

Bei mir hörte sich das so an: „Hallo, mein Name ist Nicola Nagel…(der Nachbar grüßte zurück). Ich bin Ihre Nachbarin von schräg gegenüber. Wir hatten noch nicht die Gelegenheit, uns kennenzulernen. Ich habe eine Bitte. Ich sitze auf dem Balkon und mir ist aufgefallen, dass in Ihrem Haus bei offenem Fenster ein Fernseher sehr laut an ist, sodass ich das Fernsehprogramm sehr gut verfolgen kann. Ich bitte Sie, das Fenster zu schließen oder den Fernseher leiser zu machen? Denken Sie, das ist möglich?“ Ihm war die Lautstärke gar nicht bewusst. Er willigte sofort ein und bedankte sich sogar für den Hinweis. Ich saß noch nicht wieder auf meinem Balkon, da war das Fenster bereits zu und…meine Wut war weg.

Das ist das Spannende: Sobald Sie ein Gefühl verantwortlich genutzt haben, ist es weg, denn Sie haben die Energie und Information dann entsprechend umgewandelt.

Experiment 3: Beginnen Sie wieder bewusst zu fühlen
Machen Sie sich mit ihrem Gefühls-Navigationssystem wieder bewusst vertraut, z. B. mit folgendem Experiment: Bitten Sie Ihren Partner oder eine Freundin um 10 Minuten Zeit, um dieses Experiment des bewussten Fühlens durchführen zu können. Sie werden vielleicht Angst spüren, diese Bitte auszusprechen. Überlegen Sie jedoch auf welcher „Gefühls-Landkarte“ Sie sich bewegen. Wenn Sie sich von der Angst blockieren lassen und die Bitte nicht äußern, sind Sie auf der alten Karte der Gefühle. Wenn Sie die Angst wahrnehmen, ihr vertrauen und Sie den anderen trotzdem um dieses Experiment bitten, sind Sie auf der neuen Karte der Gefühle. Was kann Ihnen denn passieren, außer, dass Sie eine spannende neue Erfahrung im Fühlen machen? Gehen Sie mit dieser Angst ins Unbekannte und falls es zu intensiv wird, atmen Sie einfach weiter und versuchen Sie es auszuhalten.

Setzen Sie sich gegenüber hin, idealerweise ohne dass ein Tisch dazwischen steht. Bitten Sie die andere Person in einer offenen Körperhaltung einfach nur dazusitzen, Arme und Beine nicht zu verschränken und die Handflächen flach auf die Oberschenkel zu legen (gleiches gilt für Ihre Körperhaltung). Die Aufgabe des Partners ist es, in dieser Haltung da zu sein, Ihnen die ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken und NICHTS zu sagen, nicht zu lachen und auch nicht mit dem Kopf zu nicken.

Nun sind Sie dran. Was fühlen Sie? Spüren Sie in sich hinein und sprechen Sie es aus während Sie der anderen Person in die Augen schauen:. „Ich fühle mich (ängstlich/wütend/traurig/froh), … weil…“. Achten Sie darauf, dass Ihr Verstand das Gefühl nicht vorher editiert. Sagen Sie, was gerade da ist, z. B. „Ich fühle mich froh, weil Du Dir die Zeit nimmst, mit mir das Experiment zu machen.“ Und dann spüren Sie wieder hin und sagen gleich den nächsten Satz: „Ich fühle mich wütend, weil der Stuhl so hart ist und ich unbequem sitze.“ „Ich fühle mich traurig, weil Du so weit weg sitzt und ich mich dadurch getrennt fühle.“ „Ich fühle Angst, weil Du mich auslachen könntest, wenn ich so weiterrede.“ Versuchen Sie, alle kleinen Regungen in sich wahrzunehmen und diese einem der vier Gerfühls-Territorien zuzuordnen.

Kommen Sie dann nach 10 Minuten zum Ende und bleiben Sie eine weitere Minute über die Augen in Kontakt ohne zu sprechen. Bedanken Sie sich anschließend bei Ihrem Partner, dass er sich die Zeit genommen hat. Vielleicht mag er das Experiment nun umgekehrt auch ausprobieren.

Ich lade Sie ein, bei diesem Experiment ein Risiko einzugehen. Kommunizieren Sie das Gefühl, das Sie gerade in sich tragen. Sie werden erstaunt sein, welche subtilen Gefühle in Ihnen aktiv sind und wie sich durch diese Kommunikation die Qualität Ihrer Beziehungen verändert. Indem Sie nämlich Ihre Gefühle ausdrücken, teilen Sie etwas von sich mit, was der anderen Person erlaubt, sich gleichermaßen zu öffnen.

Machen Sie es sich zur Praxis, Ihre Gefühle auf diese Art und Weise mitzuteilen, damit Sie wieder Zugang zu Ihrem inneren Navigationssystem bekommen, in einer hochtechnisierten Gesellschaft authentisch menschlich bleiben können und auf die Frage „Darf es ein bisschen mehr sein?“ schon bald antworten können „Ja, bitte mehr Gefühl.“

Herzliche Grüße,

Ihre Nicola Nagel

Buchtipp: Falls Sie mehr über die Weisheit und Kraft der Gefühle wissen möchten, empfehle ich Ihnen das Buch „Die Kraft des bewussten Fühlens“ von Clinton Callahan.



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