Freitag, 15. Oktober 2010

Bist Du noch nett oder lebst Du schon?

??? Wie bitte???


Ja, Sie haben richtig gelesen. Die Frage, die ich Ihnen heute stellen möchte lautet „Sind Sie noch nett oder leben Sie schon?“ Diese Frage ist zugegebenermaßen provokativ. Da werden einige Leser jetzt denken „Was soll das denn, ich bin nett UND lebe“.


Lassen Sie mich die Frage daher etwas anders formulieren: Wie authentisch sind Sie?


Neulich erzählte mir eine Bekannte, dass Sie am Abend bei geschätzten Freunden zum Essen eingeladen sei, aber überhaupt keine Lust habe hinzugehen. Sie sei den ganzen Tag so eingespannt, dass Sie abends einfach nur Zeit für sich haben wolle und ihr das Abendessen gar nicht passe. Sie habe schon keine Lust gehabt, als die Freunde sie anriefen, doch sie habe eben zugesagt. Ich fragte Sie, wieso Sie hinginge, wenn sie doch keine Lust habe. Darauf hatte Sie eine ganze Batterie an Gründen parat: Sie habe die Freunde lange nicht gesehen und es sei wirklich Zeit, dass sie mal vorbeischaue. Außerdem seien das wirklich sehr enge Freunde und die wolle sie nicht vor den Kopf stoßen. Und da war noch das geliehene Buch, das Sie endlich einmal zurück geben wollte.


Kennen Sie solche Situationen auch?


Lassen Sie uns einmal gemeinsam schauen, was es eigentlich bedeutet, authentisch zu sein. Es wird deutlich, wenn Sie sich überlegen, was für Sie im Leben ganz klar akzeptabel ist und was für Sie ganz klar inakzeptabel ist. Wenn sich eine Situation in Ihrem Leben ereignet, die für Sie akzeptabel ist und Sie ganz klar mit einem JA dahinter stehen, dann sind Sie authentisch. Gleiches gilt, wenn eine Situation für Sie nicht akzeptabel ist und Sie das mit einer klaren Grenze, einem NEIN untermauern und die Konsequenz ziehen. Dann sind Sie auch authentisch. Doch zwischen diesen beiden Bereichen AKZEPTABEL und INAKZEPTABEL gibt es diesen großen Bereich, den ich gerne als „Nebel“ bezeichne. Das ist der Bereich, in dem Sie innerlich ein NEIN spüren, aber mit einem JA reagieren oder ganz klar ein JA spüren und ein NEIN zum Ausdruck bringen. Oft verhalten wir uns so, als ob wir Dinge akzeptieren würden, obwohl wir sie eigentlich nicht akzeptieren. Das ist die sogenannte falsche Akzeptanz. Wenn wir so handeln, als ob wir etwas akzeptieren, was wir eigentlich nicht akzeptieren, sind wir nicht authentisch.


Nehmen Sie sich einmal einen Moment Zeit und beantworten Sie für sich ganz ehrlich folgende Fragen:

  • Wie oft antworten Sie auf die Frage "Na, wie geht's?" mit dem kleinen Wörtchen "Gut", obwohl Sie innerlich mit einem privaten oder beruflichen Problem kämpfen?
  • Wie oft lächeln Sie freundlich, obwohl Ihnen gar nicht nach Lächeln zumute ist?
  • Wie oft geben Sie einfach nach, um des lieben Friedens willen?
  • Wie oft sagen Sie JA und meinen eigentlich NEIN?
  • Wie oft handeln Sie auf eine bestimmte Art und Weise, weil "man es halt so macht"?
  • Wie oft verhalten Sie sich angepasst, damit sich andere wohl fühlen? Wie oft versuchen Sie die Erwartungen anderer zu erfüllen, obwohl Sie viel lieber etwas machen würden, was Sie erfüllt und Ihnen Freude bereitet?
  • Wie oft schlucken Sie Dinge herunter, die eigentlich gesagt werden müssten?

Na, konnten Sie sich an die eine oder andere Situation erinnern, wo Sie nicht authentisch waren? Normalerweise sind wir nicht ehrlich zu uns selbst oder anderen in Bezug auf unsere falsche Akzeptanz. Wir sind nicht authentisch in Bezug auf unsere Inauthentizität.


Gestern
sprach ich mit einem Bekannten, der mir ein schönes Beispiel gab, was passieren kann, wenn wir nicht authentisch sind. Er hat einen Freund, der alles dafür tut, um ein Bild zu erschaffen, das die Leute glauben lässt, er sei ein sehr erfolgreicher, großzügiger Geschäftsmann, der sein Leben im Griff hat. Um seinem vermeintlichen Erfolg Nachdruck zu verleihen, redet er ununterbrochen und überrollt sein Gegenüber regelrecht mit Worten. Die Wahrheit sieht jedoch ganz anders aus: Er ist alles andere als erfolgreich, fährt lieber mit einem Oldtimer durch die Gegend und ist geizig. Das einzige, was er mit seiner Inauthentizität erreicht ist, dass die Menschen einen Bogen um ihn machen und Groll gegen ihn hegen, weil er ein falsches Spiel spielt. Er ist ziemlich einsam.


Es muss jedoch nicht immer so offensichtlich sein, dass jemand nicht authentisch ist. Es ist vor allem auch die subitle Inauthentizität, die uns unserer Energie beraubt. Wenn wir nicht authentisch sind, schneiden wir uns von unserem eigenen Sein ab. Das kostet nicht nur Kraft sondern macht uns auf Dauer auch unglücklich.


Und jetzt? Wenn wir erforschen, wo wir nicht authentisch sind, wenn wir also authentisch in Bezug auf unsere Inauthentizität werden, geschieht etwas Besonderes in unserer Kommunikation und unserem Verhalten. Unsere Beziehung zu uns selbst und zu anderen Menschen gewinnt eine neue Qualität. Wir können also anfangen, authentisch in Bezug auf unsere Inauthentizität zu werden. Es gibt jedoch eine gute und eine schlechte Nachricht:


Die gute Nachricht ist, dass Sie einen Detektor für Inauthentizität haben. Dieser mag vielleicht etwas eingerostet sein, doch Sie können ihn durch ein bisschen Übung wieder aktivieren. Er sitzt in Höhe des Brustbeins und Sie können ihn sich wie eine Nadel vorstellen, die auf einer Anzeige von links bis rechts ausschlagen kann. Im Ruhezustand zeigt die Nadel auf den Wert Null (=authentisch) und wenn sie bis ganz rechts ausschlägt, erreicht sie den Wert 100% (=absolut inauthentisch). Der Detektor funktioniert jedoch nicht mit dem Verstand. Inauthentizität, insbesondere die sehr subtilen Formen, nehmen Sie mit Ihrem Sein war. Sie können sofort spüren, wenn Ihr Gegenüber nicht authentisch ist. Probieren Sie das einmal aus und „scannen“ Sie mit ihrem Detektor die Menschen, denen Sie begegnen auf Inauthentizität.


Haben Sie schon einmal mit einer Person gesprochen und Sie wussten einfach intuitiv, dass sie lügt? Ja, genau so fühlt es sich auch an, wenn jemand nicht authentisch ist. Sie wissen es einfach dank Ihres Detektors. Und ganz direkt gesagt: Inauthentizität ist nichts anderes als Lügen. Sie belügen sich selbst und andere, wenn Sie nicht authentisch sind.


Die schlechte Nachricht ist, dass Sie zwar schnell die Inauthentizität anderer wahrnehmen können, jedoch nicht die eigene. Oft sind wir so eingefahren in unseren Verhaltensweisen, dass wir gar nicht merken, wann wir inauthentisch sind. Um sich dessen wieder mehr bewusst zu werden, lade ich Sie zu folgendem Experiment ein:


Der erste Teil des Experiments besteht darin, dass Sie sich 3 Personen in ihrem engen Umfeld aussuchen, denen Sie vertrauen und mit denen Sie gerne Zeit verbringen. Treffen Sie sich jeweils mit einer Person und stellen Sie ihr folgende Fragen:

  • Wann war ich in Deinen Augen nicht authentisch?
  • Woran erkennst Du, dass ich nicht authentisch bin?
  • Wie fühlt es sich für Dich an, wenn Du merkst, dass ich nicht authentisch bin?

Bitten Sie die Person dann darum, Ihnen in Zukunft sofort Rückmeldung zu geben, wenn sie wahrnimmt, dass Sie nicht authentisch sind.


Der zweite Teil des Experiments besteht darin, dass Sie beginnen sich selbst zu beobachten. Erforschen Sie den Inauthentizitäts-Mechanismus in sich. Wann sagen Sie JA, obwohl Sie NEIN meinen und umgekehrt. Spüren Sie in sich rein. Wann lächeln Sie jemanden an, weil sie es einfach so gewohnt sind? Sie werden erstaunt sein, wie gut der Mechanismus funktioniert, denn wir sind in unserer Gesellschaft dazu erzogen worden, bestimmten Regeln zu folgen und Bildern zu entsprechen.


Angenommen, Sie haben jetzt die Entscheidung getroffen, ab sofort nur noch authentisch zu sein, also ja zu sagen, wenn Sie ja spüren und nein zu sagen, wenn Sie nein spüren. Dann gibt es da noch diese kleine Falle genannt GRÜNDE!


Lassen Sie uns noch einmal das Beispiel der Freundin nehmen, die zum Abendessen eingeladen war. Sie rief mich am nächsten Tag an und erzählte mir freudig, sie habe das Abendessen kurzfristig abgesagt und einen wunderbaren, entspannten Abend für sich genossen. Ich fragte sie, was sie den Freunden gesagt habe. Sie antwortete, sie habe ihnen mitgeteilt, sie könne nicht kommen, weil sie noch einiges an Hausarbeit zu tun und für den nächsten Tag etwas vorzubereiten hätte. BIEP! – INAUTHENTISCH!


Wenn Sie sich einen Grund einfallen lassen, um Ihr eigentlich authentisches Gefühl oder ihre authentische Entscheidung zu „legalisieren“, dann sind Sie nicht authentisch. Wenn Sie kleine Notlügen, Ausflüchte oder Gründe heranziehen, um Ihr JA oder NEIN zu „rechtfertigen“, sind Sie nicht authentisch. Und mal ehrlich: wenn ihr Gegenüber einen funktionierenden Detektor für Inauthentizität hat, merkt er sowieso, dass es ein fadenscheiniger Grund ist.


Sie sehen also, es lohnt sich gar nicht, diese anstrengende Maske der falschen Akzeptanz aufrecht zu halten. Spüren Sie stattdessen in sich hinein, finden Sie heraus, was Sie wirklich möchten und handeln Sie dann verantwortlich authentisch.


Authentisch herzliche Grüße,


Ihre Nicola Nagel