Es brodelt in vielen Menschen. Es rumort, es kocht,
es zwickt, es ist kurz vorm Explodieren. Was ist dieses ES? ES sind Gefühle und
Emotionen, die immer mehr hochkochen. Dies zeigt sich in unterschiedlichen
Ausprägungen. Die einen explodieren tatsächlich, indem sie z. B. jemanden
anschreien oder einen Streit über Belanglosigkeiten anzetteln, die nächsten
fressen Gefühle still in sich hinein und haben früher oder später körperliche
Symptome, und eine große Anzahl Menschen versucht die Gefühle mit Shopping,
Konsum, Alkohol und Ablenkung zu vertuschen. Wen wundert’s, schließlich sind
wir dahin gehend in unserer Gesellschaft manipuliert worden, dass es nicht okay
ist, Gefühle zu haben oder zu zeigen. Man muss stark, verlässlich und
professionell sein und da passen Gefühle nun einmal nicht hinein. Was sollen
denn die Nachbarn und Kollegen sonst denken! Gefühle sind negativ, albern,
kindisch und destruktiv. Doch viele Menschen sind am Anschlag und der Versuch,
das, was da innen drin brodelt zu unterdrücken, geht irgendwann voll nach
hinten los.
Es ist Zeit, sich zu besinnen und zwar darauf, dass
Gefühle und Emotionen kein Design-Fehler von Gott sind, sondern ein wesentlicher
Bestandteil von uns. Sie sind gewollt. Sie gehören zu uns. Es sind archetypische
Kräfte, die uns dienen. Das scheint eine große Anzahl von Menschen jedoch zu
verdrängen. Wie viele Bücher und Workshops gibt es, in denen Sie lernen können
gaaanz ruhig zu sein und Ihre Wut zu kontrollieren oder wie viele Seminare
versprechen Ihnen, dass Sie nach Besuch der selbigen weniger Angst haben. Es
ist wirklich erschreckend. Kürzlich erzählte mir ein junger Mann, dass er für
ein Jahr in einem Ashram in Indien war und dort eine bestimmte Art von Mediation
lernte, um letztendlich ganz ruhig und gelassen zu sein. Das funktionierte auch
zunächst prima. Und dann, so erzählte er, kam nach einem Jahr der Tag, an dem
seine Mutter und seine Schwester ihn in Indien besuchten… und – Sie ahnen es -
innerhalb von 2 Stunden triggerten die beiden das komplette alte Programm in
ihm und all seine unterdrückten Gefühle wurden in rasender Geschwindigkeit zum
Kochen gebracht. Vorbei war’s mit der Gelassenheit. Lassen Sie uns daher eine
Sache klarstellen: Wut, Traurigkeit, Angst und Freude sind archetypische, d. h.
ursprüngliche Gefühlsterritorien. Sie gehen niemals weg. Vielleicht schaffen
Sie es, diese Ur-Kräfte über einen bestimmten Zeitraum zu kontrollieren oder zu
unterdrücken, doch irgendwann kommt der Punkt, an dem alles, was verdrängt
wurde, wie ein Boomerang zurück kommt. Es ist Zeit, die Kraft der Gefühle
wieder in Besitz zu nehmen und zu nutzen.
Dieses Thema wird insofern immer brisanter, als
dass die nationalen und weltweiten politischen und wirtschaftlichen
Entwicklungen alles andere als vertrauenswürdig sind und Instabilität und
Unsicherheit zunehmen. Was können Sie also tun, wenn in Ihnen ein
Gefühls-Cocktail brodelt und scheinbar alles zu viel wird?
Grundsätzlich haben Sie zwei Möglichkeiten:
Katharsis oder Kathexis.
Lassen Sie uns zunächst Katharsis betrachten. Stellen
Sie sich vor, Sie haben Ihre Gefühle über diverse große und kleine Dinge bisher
gedeckelt. Die meisten Menschen tun dies. Sie bauen eine sogenannte
Taubheitsschwelle auf, um Gefühle nicht fühlen zu müssen, um in einer Großstadt
überleben oder in einer bestimmten Firma arbeiten zu können, kurzum: um im
Alltags-Dschungel der modernen Gesellschaft zu überleben. Auf einer Skala von 0
bis 100% Gefühls-Maximum haben viele Menschen Ihre Taubheitsschwelle bei ca. 80%
liegen, d. h. alle Gefühle, die weniger als 80% groß sind, können sie nicht bewusst
fühlen. Das ist nicht gut und nicht schlecht. Es produziert lediglich bestimmte
Resultate. Wenn dann in einem bestimmten Moment der besagte Tropfen Ihr Fass
zum Überlaufen bringt und das Gefühl in dem Moment die 80% Marke übersteigt,
dann kommt es zum Vulkanausbruch. Sie brüllen vielleicht das Büro zusammen oder
greifen Ihren Partner an, schnauzen die Verkäuferin im Supermarkt an oder
wettern gegen Ihren Geschäftspartner. Genau das ist Katharsis. Katharsis ist
ein unkontrollierter Gefühlsausbruch, um die Gefühle eben „einfach mal raus zu
lassen“. Manche leben Katharsis gegenüber anderen Menschen aus, wieder andere
gehen in den Wald und schreien einen Baum an oder prügeln auf einen Box-Sack
ein. Der Ausbruch fühlt sich oftmals so groß an, dass Sie danach womöglich
denken „Was war das denn? Ohje, da muss ich mich aber das nächste Mal besser im
Griff haben.“ Und dann setzen Sie Ihre Taubheitsschwelle wieder nach oben und
deckeln die Gefühle erneut. Schließlich wollen Sie ja nicht, dass die anderen
Sie als jähzornig, Heulsuse oder armen Irren betiteln.
Doch noch einmal: Sie können die Gefühle nicht
loswerden. Der Mensch hat einen emotionalen Körper mit einem Herz, das Gefühle
hat. Und so lange Sie nicht Davy Jones sind (der skurrile Kapitän der Flying
Dutchman aus dem Film „Der Fluch der
Karibik“), können Sie ohne Herz und damit ohne Gefühle nicht leben. Es ist
vergebens zu probieren, die Gefühle abzustellen. Katharsis ist also nicht
wirklich zielführend. Es ist vielleicht ein temporärer Nutzen, doch Sie haben
dadurch die tatsächlich Gefühlskraft nicht wieder in Besitz genommen. Ergo
steht Sie ihnen nicht dauerhaft nützlich zur Verfügung. Bei Katharsis hat das
Gefühl Sie im Griff.
Lassen Sie uns an dieser Stelle ein Experiment
machen.
Experiment
1: Wie lenken Sie sich ab?
Erinnern Sie sich einmal an Momente, in denen
Gefühle in Ihnen hochkochten und Sie sie souverän kontrolliert haben. Wie haben
Sie das gemacht? Wie haben Sie sich abgelenkt, um die Gefühle nicht zu fühlen.
Vielleicht sind Sie eine Runde Joggen gegangen oder haben sich im
Fitness-Studio abreagiert. Oder Sie haben sich vor den Fernseher gesetzt, im
Internet gesurft, eine Flasche Rotwein oder Bier aufgemacht oder Schokolade und
Pizza gefuttert. Manche Menschen nutzen auch Sex als Ablenkung, andere wiederum
Zigaretten oder sonstige Drogen. Jeder hat Lieblingsstrategien, um sich
abzulenken und „zu vergessen“.
Schreiben Sie einmal auf, wie Sie versuchen, die
„negativen“ Gefühle verschwinden zu lassen.
Die Ablenkungsstrategie, genauso wie Katharsis,
beruhen auf der alten Sichtweise über Gefühle. Die alte Sichtweise besagt, dass
Gefühle schlecht sind. Wut ist negativ, destruktiv, kindisch, zerstörerisch,
gefährlich und bedrohlich. Wenn Sie traurig sind, sind Sie eine Heulsuse,
ziehen andere runter, sind unprofessionell und nicht in der Lage Entscheidungen
zu treffen. Bewegen Sie sich im Gebiet der Angst sind Sie feige, verbreiten
womöglich Panik und mal ehrlich, Angst möchte doch keiner haben, also gilt es,
diese zu vermeiden. Und Freude? Nun ja, dieses Gefühl geht gerade noch. Das ist
eventuell noch positiv, oder? Aber was passiert, wenn Sie den ganzen Tag
grinsend im Büro sitzen? Dann sind Sie albern, naiv, haben etwas geraucht,
nicht genug Arbeit oder einen Clown gefrühstückt. Auf jeden Fall sind Sie dann
nicht ernst zu nehmen.
Soweit die alte Sichtweise, die uns beigebracht
wurde und uns nach wie vor versucht wird einzutrichtern.
Eine andere Möglichkeit, mit aufkommenden klaren
oder vermischten Gefühlen umzugehen, ist die sogenannte Kathexis. Kathexis
bedeutet, dass Sie Ihre Gefühle bewusst fühlen, Ihre Taubheitsschwelle
schrittweise herabsetzen und in einem weiteren Schritt die Information und Energie,
die hinter den Gefühlen stecken, verantwortlich nutzen. Um das tun zu können,
ist eine neue Sichtweise auf die vier genannten Gefühlsterritorien Wut,
Traurigkeit, Freude und Angst notwendig.
Die neue Sichtweise lautet, dass Gefühle NEUTRALE
Energie und Information sind - so
neutral wie die vier Himmelsrichtungen auf einem Kompass – und ihnen auf
wertvolle Art und Weise dienen. Sie sind wie ein goldener Schlüssel, wie ein
inneres Navigationssystem, das Sie zielsicher durchs Leben leitet.
Mit Wut können Sie z. B. Grenzen setzen,
Unterscheidungen treffen, in Aktion treten, Entscheidungen fällen, vorwärts
gehen, ausmisten, Dinge erledigen, Ja und Nein sagen, etwas beginnen und stopp
sagen. Mit Traurigkeit können Sie AUTHENTISCH in Kontakt mit anderen Menschen
gehen, Mitgefühl entwickeln, Dinge loslassen oder verabschieden, sich offen und
verletzlich zeigen. Angst ermöglicht Ihnen zu planen, kreativ zu werden, in
unbekanntes Gebiet zu gehen, innovativ zu sein, wach, präsent und aufmerksam zu
sein. Freude dient Ihnen, um zu führen, sich selbst und andere zu begeistern,
über den Tellerrand zu schauen, zu motivieren und vorwärts zu gehen.*
Mit dieser neuen Sichtweise ist Kathexis möglich.
Kathexis bedeutet, dass Sie den Schatz z. B. des Territoriums der Traurigkeit
erforschen und in einem geschützten Raum in Gegenwart einer anderen Person
wirklich traurig sein können und zwar nicht als Opfer, sondern verantwortlich.
Sie beginnen bewusst und hören bewusst auf. Sie kommunizieren klar, worüber Sie
traurig sind („Ich bin traurig weil, …“) und es wird von der anderen Person
gehört. Es funktioniert gleichermaßen mit Wut, Angst und Freude. Entscheidend
ist, dass Sie bewusst lernen zu fühlen und den facettenreichen Schatz der
Gefühle ausgraben.
Katharsis hat also die Absicht etwas loszuwerden,
während Kathexis die Absicht hat, den Schatz zu bewahren, den Sie erhalten,
wenn Sie bewusst und klar die verschiedenen Gefühlsterritorien erfahren und
erforschen.* Der Schatz den Sie erhalten ist Klarheit über Ihre Gefühle und
deren Nutzen. Sie erfahren, dass Sie größer sind als ein Gefühl. Sie nehmen die
Gefühle und ihre Energie wieder in Besitz. Und vor allem erhalten Sie dadurch
Ihre Kraft zurück und können an Ihr tatsächliches Potenzial andocken.
Experiment
2: Gefühle bewusst machen
SCHRITT 1: Wenn Sie das nächste Mal eine Ihrer oben
genannten Strategien anwenden wollen, um etwas nicht zu fühlen, widerstehen Sie
bewusst. Halten Sie inne und versuchen Sie bewusst wahrzunehmen, welches Gefühl
da gerade in Ihrem Körper aufsteigt. Ist es Wut, Traurigkeit, Angst oder
Freude? Vielleicht fühlen Sie auch mehrere über die gleiche Situation, also z.
B. Angst und Traurigkeit.
SCHRITT 2: Bitten Sie nun eine Person Ihres Vertrauens für den nächsten Schritt zur Verfügung zu stehen. Das einzige, was diese Person machen muss ist zuhören (keine Rückfragen, Analysen oder Diskussionen). Sagen Sie dieser Person nun, zu wie viel Prozent und warum Sie etwas gerade fühlen. Also z. B. „Ich fühle mich 5% wütend, weil es schon wieder so spät ist und ich mich nicht mehr auf meinen Termin vorbereiten kann“ oder „ich fühle10% Traurigkeit, weil ich heute Abend nicht mit Dir essen gehen kann“. Es wird sich im ersten Moment vielleicht etwas komisch anfühlen, doch das ist ein entscheidender Schritt, um wieder bewusst fühlen zu lernen. Lassen Sie die Gefühle für dieses Experiment nur maximal 15% groß werden. Sobald Sie einen weiteren Schritt gehen möchten, suchen Sie sich eine Person, die den Raum für bewusst Gefühlsarbeit für Sie sicher machen kann, also jemand, der sich damit auskennt. Probieren Sie nicht alleine zuhause auf dem Sofa 50% oder 80% oder gar 100% Maximum Wut, Traurigkeit oder Angst zu fühlen. Zum einen könnten Sie sich verletzen, zum anderen könnten die Nachbarn die Polizei rufen (Denken Sie daran, dass Ihre Nachbarn womöglich auch in der Annahme leben, dass es nicht okay ist so große Gefühle zu haben).
Entscheidend ist, dass Sie bei Kathexis bewusst
nach innen gehen. Sie suchen keine Ablenkung mehr im Außen oder schreien Ihre
Gefühle unkontrolliert heraus. Sie gehen bewusst nach innen, um den Schatz der
Gefühlskraft zu heben und diese Schatztruhe zu öffnen, sodass Ihnen die Kraft
Ihrer Gefühle wieder als inneres Navigationssystem zur Verfügung steht und sie
diese bewusst und verantwortlich nutzen können.
Katharsis
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Kathexis
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Lassen Sie sich inspirieren.
In diesem Sinne herzliche Grüße,
Ihre Nicola Neumann-Mangoldt
*Ein großartiges Buch zum Thema ist „Die Kraft des
bewussten Fühlens“ von Clinton Callahan.
POTENZIALE LEBEN!
www.viva-essenza.com