Samstag, 12. Oktober 2013

Katharsis versus Kathexis - Wohin mit den ganzen Gefühlen?



Es brodelt in vielen Menschen. Es rumort, es kocht, es zwickt, es ist kurz vorm Explodieren. Was ist dieses ES? ES sind Gefühle und Emotionen, die immer mehr hochkochen. Dies zeigt sich in unterschiedlichen Ausprägungen. Die einen explodieren tatsächlich, indem sie z. B. jemanden anschreien oder einen Streit über Belanglosigkeiten anzetteln, die nächsten fressen Gefühle still in sich hinein und haben früher oder später körperliche Symptome, und eine große Anzahl Menschen versucht die Gefühle mit Shopping, Konsum, Alkohol und Ablenkung zu vertuschen. Wen wundert’s, schließlich sind wir dahin gehend in unserer Gesellschaft manipuliert worden, dass es nicht okay ist, Gefühle zu haben oder zu zeigen. Man muss stark, verlässlich und professionell sein und da passen Gefühle nun einmal nicht hinein. Was sollen denn die Nachbarn und Kollegen sonst denken! Gefühle sind negativ, albern, kindisch und destruktiv. Doch viele Menschen sind am Anschlag und der Versuch, das, was da innen drin brodelt zu unterdrücken, geht irgendwann voll nach hinten los.

Es ist Zeit, sich zu besinnen und zwar darauf, dass Gefühle und Emotionen kein Design-Fehler von Gott sind, sondern ein wesentlicher Bestandteil von uns. Sie sind gewollt. Sie gehören zu uns. Es sind archetypische Kräfte, die uns dienen. Das scheint eine große Anzahl von Menschen jedoch zu verdrängen. Wie viele Bücher und Workshops gibt es, in denen Sie lernen können gaaanz ruhig zu sein und Ihre Wut zu kontrollieren oder wie viele Seminare versprechen Ihnen, dass Sie nach Besuch der selbigen weniger Angst haben. Es ist wirklich erschreckend. Kürzlich erzählte mir ein junger Mann, dass er für ein Jahr in einem Ashram in Indien war und dort eine bestimmte Art von Mediation lernte, um letztendlich ganz ruhig und gelassen zu sein. Das funktionierte auch zunächst prima. Und dann, so erzählte er, kam nach einem Jahr der Tag, an dem seine Mutter und seine Schwester ihn in Indien besuchten… und – Sie ahnen es - innerhalb von 2 Stunden triggerten die beiden das komplette alte Programm in ihm und all seine unterdrückten Gefühle wurden in rasender Geschwindigkeit zum Kochen gebracht. Vorbei war’s mit der Gelassenheit. Lassen Sie uns daher eine Sache klarstellen: Wut, Traurigkeit, Angst und Freude sind archetypische, d. h. ursprüngliche Gefühlsterritorien. Sie gehen niemals weg. Vielleicht schaffen Sie es, diese Ur-Kräfte über einen bestimmten Zeitraum zu kontrollieren oder zu unterdrücken, doch irgendwann kommt der Punkt, an dem alles, was verdrängt wurde, wie ein Boomerang zurück kommt. Es ist Zeit, die Kraft der Gefühle wieder in Besitz zu nehmen und zu nutzen.

Dieses Thema wird insofern immer brisanter, als dass die nationalen und weltweiten politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen alles andere als vertrauenswürdig sind und Instabilität und Unsicherheit zunehmen. Was können Sie also tun, wenn in Ihnen ein Gefühls-Cocktail brodelt und scheinbar alles zu viel wird?

Grundsätzlich haben Sie zwei Möglichkeiten: Katharsis oder Kathexis.

Lassen Sie uns zunächst Katharsis betrachten. Stellen Sie sich vor, Sie haben Ihre Gefühle über diverse große und kleine Dinge bisher gedeckelt. Die meisten Menschen tun dies. Sie bauen eine sogenannte Taubheitsschwelle auf, um Gefühle nicht fühlen zu müssen, um in einer Großstadt überleben oder in einer bestimmten Firma arbeiten zu können, kurzum: um im Alltags-Dschungel der modernen Gesellschaft zu überleben. Auf einer Skala von 0 bis 100% Gefühls-Maximum haben viele Menschen Ihre Taubheitsschwelle bei ca. 80% liegen, d. h. alle Gefühle, die weniger als 80% groß sind, können sie nicht bewusst fühlen. Das ist nicht gut und nicht schlecht. Es produziert lediglich bestimmte Resultate. Wenn dann in einem bestimmten Moment der besagte Tropfen Ihr Fass zum Überlaufen bringt und das Gefühl in dem Moment die 80% Marke übersteigt, dann kommt es zum Vulkanausbruch. Sie brüllen vielleicht das Büro zusammen oder greifen Ihren Partner an, schnauzen die Verkäuferin im Supermarkt an oder wettern gegen Ihren Geschäftspartner. Genau das ist Katharsis. Katharsis ist ein unkontrollierter Gefühlsausbruch, um die Gefühle eben „einfach mal raus zu lassen“. Manche leben Katharsis gegenüber anderen Menschen aus, wieder andere gehen in den Wald und schreien einen Baum an oder prügeln auf einen Box-Sack ein. Der Ausbruch fühlt sich oftmals so groß an, dass Sie danach womöglich denken „Was war das denn? Ohje, da muss ich mich aber das nächste Mal besser im Griff haben.“ Und dann setzen Sie Ihre Taubheitsschwelle wieder nach oben und deckeln die Gefühle erneut. Schließlich wollen Sie ja nicht, dass die anderen Sie als jähzornig, Heulsuse oder armen Irren betiteln.

Doch noch einmal: Sie können die Gefühle nicht loswerden. Der Mensch hat einen emotionalen Körper mit einem Herz, das Gefühle hat. Und so lange Sie nicht Davy Jones sind (der skurrile Kapitän der Flying Dutchman  aus dem Film „Der Fluch der Karibik“), können Sie ohne Herz und damit ohne Gefühle nicht leben. Es ist vergebens zu probieren, die Gefühle abzustellen. Katharsis ist also nicht wirklich zielführend. Es ist vielleicht ein temporärer Nutzen, doch Sie haben dadurch die tatsächlich Gefühlskraft nicht wieder in Besitz genommen. Ergo steht Sie ihnen nicht dauerhaft nützlich zur Verfügung. Bei Katharsis hat das Gefühl Sie im Griff.

Lassen Sie uns an dieser Stelle ein Experiment machen.

Experiment 1: Wie lenken Sie sich ab?
Erinnern Sie sich einmal an Momente, in denen Gefühle in Ihnen hochkochten und Sie sie souverän kontrolliert haben. Wie haben Sie das gemacht? Wie haben Sie sich abgelenkt, um die Gefühle nicht zu fühlen. Vielleicht sind Sie eine Runde Joggen gegangen oder haben sich im Fitness-Studio abreagiert. Oder Sie haben sich vor den Fernseher gesetzt, im Internet gesurft, eine Flasche Rotwein oder Bier aufgemacht oder Schokolade und Pizza gefuttert. Manche Menschen nutzen auch Sex als Ablenkung, andere wiederum Zigaretten oder sonstige Drogen. Jeder hat Lieblingsstrategien, um sich abzulenken und „zu vergessen“.
Schreiben Sie einmal auf, wie Sie versuchen, die „negativen“ Gefühle verschwinden zu lassen.

Die Ablenkungsstrategie, genauso wie Katharsis, beruhen auf der alten Sichtweise über Gefühle. Die alte Sichtweise besagt, dass Gefühle schlecht sind. Wut ist negativ, destruktiv, kindisch, zerstörerisch, gefährlich und bedrohlich. Wenn Sie traurig sind, sind Sie eine Heulsuse, ziehen andere runter, sind unprofessionell und nicht in der Lage Entscheidungen zu treffen. Bewegen Sie sich im Gebiet der Angst sind Sie feige, verbreiten womöglich Panik und mal ehrlich, Angst möchte doch keiner haben, also gilt es, diese zu vermeiden. Und Freude? Nun ja, dieses Gefühl geht gerade noch. Das ist eventuell noch positiv, oder? Aber was passiert, wenn Sie den ganzen Tag grinsend im Büro sitzen? Dann sind Sie albern, naiv, haben etwas geraucht, nicht genug Arbeit oder einen Clown gefrühstückt. Auf jeden Fall sind Sie dann nicht ernst zu nehmen.

Soweit die alte Sichtweise, die uns beigebracht wurde und uns nach wie vor versucht wird einzutrichtern.

Eine andere Möglichkeit, mit aufkommenden klaren oder vermischten Gefühlen umzugehen, ist die sogenannte Kathexis. Kathexis bedeutet, dass Sie Ihre Gefühle bewusst fühlen, Ihre Taubheitsschwelle schrittweise herabsetzen und in einem weiteren Schritt die Information und Energie, die hinter den Gefühlen stecken, verantwortlich nutzen. Um das tun zu können, ist eine neue Sichtweise auf die vier genannten Gefühlsterritorien Wut, Traurigkeit, Freude und Angst notwendig.

Die neue Sichtweise lautet, dass Gefühle NEUTRALE Energie und Information sind -  so neutral wie die vier Himmelsrichtungen auf einem Kompass – und ihnen auf wertvolle Art und Weise dienen. Sie sind wie ein goldener Schlüssel, wie ein inneres Navigationssystem, das Sie zielsicher durchs Leben leitet.

Mit Wut können Sie z. B. Grenzen setzen, Unterscheidungen treffen, in Aktion treten, Entscheidungen fällen, vorwärts gehen, ausmisten, Dinge erledigen, Ja und Nein sagen, etwas beginnen und stopp sagen. Mit Traurigkeit können Sie AUTHENTISCH in Kontakt mit anderen Menschen gehen, Mitgefühl entwickeln, Dinge loslassen oder verabschieden, sich offen und verletzlich zeigen. Angst ermöglicht Ihnen zu planen, kreativ zu werden, in unbekanntes Gebiet zu gehen, innovativ zu sein, wach, präsent und aufmerksam zu sein. Freude dient Ihnen, um zu führen, sich selbst und andere zu begeistern, über den Tellerrand zu schauen, zu motivieren und vorwärts zu gehen.*

Mit dieser neuen Sichtweise ist Kathexis möglich. Kathexis bedeutet, dass Sie den Schatz z. B. des Territoriums der Traurigkeit erforschen und in einem geschützten Raum in Gegenwart einer anderen Person wirklich traurig sein können und zwar nicht als Opfer, sondern verantwortlich. Sie beginnen bewusst und hören bewusst auf. Sie kommunizieren klar, worüber Sie traurig sind („Ich bin traurig weil, …“) und es wird von der anderen Person gehört. Es funktioniert gleichermaßen mit Wut, Angst und Freude. Entscheidend ist, dass Sie bewusst lernen zu fühlen und den facettenreichen Schatz der Gefühle ausgraben.

Katharsis hat also die Absicht etwas loszuwerden, während Kathexis die Absicht hat, den Schatz zu bewahren, den Sie erhalten, wenn Sie bewusst und klar die verschiedenen Gefühlsterritorien erfahren und erforschen.* Der Schatz den Sie erhalten ist Klarheit über Ihre Gefühle und deren Nutzen. Sie erfahren, dass Sie größer sind als ein Gefühl. Sie nehmen die Gefühle und ihre Energie wieder in Besitz. Und vor allem erhalten Sie dadurch Ihre Kraft zurück und können an Ihr tatsächliches Potenzial andocken.

Experiment 2: Gefühle bewusst machen
SCHRITT 1: Wenn Sie das nächste Mal eine Ihrer oben genannten Strategien anwenden wollen, um etwas nicht zu fühlen, widerstehen Sie bewusst. Halten Sie inne und versuchen Sie bewusst wahrzunehmen, welches Gefühl da gerade in Ihrem Körper aufsteigt. Ist es Wut, Traurigkeit, Angst oder Freude? Vielleicht fühlen Sie auch mehrere über die gleiche Situation, also z. B. Angst und Traurigkeit.

SCHRITT 2: Bitten Sie nun eine Person Ihres Vertrauens für den nächsten Schritt zur Verfügung zu stehen. Das einzige, was diese Person machen muss ist zuhören (keine Rückfragen, Analysen oder Diskussionen). Sagen Sie dieser Person nun, zu wie viel Prozent und warum Sie etwas gerade fühlen. Also z. B. „Ich fühle mich 5% wütend, weil es schon wieder so spät ist und ich mich nicht mehr auf meinen Termin vorbereiten kann“ oder „ich fühle10% Traurigkeit, weil ich heute Abend nicht mit Dir essen gehen kann“. Es wird sich im ersten Moment vielleicht etwas komisch anfühlen, doch das ist ein entscheidender Schritt, um wieder bewusst fühlen zu lernen. Lassen Sie die Gefühle für dieses Experiment nur maximal 15% groß werden. Sobald Sie einen weiteren Schritt gehen möchten, suchen Sie sich eine Person, die den Raum für bewusst Gefühlsarbeit für Sie sicher machen kann, also jemand, der sich damit auskennt. Probieren Sie nicht alleine zuhause auf dem Sofa 50% oder 80% oder gar 100% Maximum Wut, Traurigkeit oder Angst zu fühlen. Zum einen könnten Sie sich verletzen, zum anderen könnten die Nachbarn die Polizei rufen (Denken Sie daran, dass Ihre Nachbarn womöglich auch in der Annahme leben, dass es nicht okay ist so große Gefühle zu haben).

Entscheidend ist, dass Sie bei Kathexis bewusst nach innen gehen. Sie suchen keine Ablenkung mehr im Außen oder schreien Ihre Gefühle unkontrolliert heraus. Sie gehen bewusst nach innen, um den Schatz der Gefühlskraft zu heben und diese Schatztruhe zu öffnen, sodass Ihnen die Kraft Ihrer Gefühle wieder als inneres Navigationssystem zur Verfügung steht und sie diese bewusst und verantwortlich nutzen können.

Katharsis
Kathexis
  • Gefühle sind nicht okay.

  • „Negative“ Gefühle loswerden.

  • Unkontrollierter Gefühlsausbruch.

  • Verpulvern von Energie.

  • Taubheitsschwelle hoch halten.

  • Die Information und der Nutzen der Gefühle bleiben verschlossen.

  • Nach außen gerichtet. Keine Klarheit über die Intensität der Gefühle.

  • Das Gefühl besitzt mich. Das Gefühl ist größer als ich.
  • Gefühle sind neutrale Energie & Information, die mir dienen.
  • Die Kraft der Gefühle halten.

  • Bewusst anfangen und aufhören zu fühlen.
  • Aktivieren und halten der Energie.

  • Herabsetzen der Taubheitsschwelle.

  • Information der Gefühle wird er-schlossen und verantwortlich genutzt.
  • Nach innen gerichtet. Die Gefühle werden im Innern zwischen 0% und 100% Maximum bewusst erfahren.
  • Ich besitze das Gefühl. Ich bin größer als das Gefühl.


Lassen Sie sich inspirieren.

In diesem Sinne herzliche Grüße,
Ihre Nicola Neumann-Mangoldt




*Ein großartiges Buch zum Thema ist „Die Kraft des bewussten Fühlens“ von Clinton Callahan.


POTENZIALE LEBEN!
www.viva-essenza.com