Unsere Gesellschaft lebt in einem engen Korsett. Es
ist das Korsett von Bewertung. Bewusst oder unbewusst bewerten wir ständig. Wir
werden regelrecht darauf gedrillt zu bewerten. Das fängt in der Schule an und
geht im Job direkt weiter. Wir lernen zu bewerten, weil wir selbst in dem
System des Bewertens groß geworden sind und es als normal erachten. Doch haben
Sie sich einmal gefragt, wie es wäre, gar nicht mehr zu bewerten, nichts und
niemanden?
Da mag der ein oder andere bereits stutzen und
sagen „das geht doch gar nicht, es gibt doch Dinge, die richtig sind und
andere, die falsch sind“. Doch genau da wird es spannend. Wer legt denn
eigentlich das Bewertungssystem fest, gegen das wir permanent gemessen werden
und gegen das wir uns selbst und andere messen? Haben Sie dieses
Bewertungssystem jemals in Frage gestellt oder haben Sie es – wie die meisten
Menschen – einfach übernommen, getreu dem Motto „Das ist halt so.“?
Ich möchte Sie heute dazu einladen, Ihr
Bewertungssystem einmal zu betrachten, denn Tatsache ist, dass Sie sich durch
ein übernommenes Bewertungssystem selbst einengen. Sie sitzen sozusagen in
Ihrem eigenen Gefängnis. Jede Bewertung, die Sie vornehmen oder in Ihrem Nervensystem
gespeichert haben, ist wie eine der Gitterstangen durch die Sie aus Ihrem
Gefängnis herausschauen. Die gute Nachricht ist: bei diesem Gefängnis steckt
der Schlüssel innen. Sie können also das ganze Konstrukt selbst demontieren und
Sie werden erstaunt sein, wie viel Energie und Zeit Sie plötzlich wieder zur
Verfügung haben. Lassen Sie uns direkt damit beginnen.
Experiment
1: Was, wen und wann bewerten Sie?
Nehmen Sie einmal ein Blatt Papier und lassen Sie
die letzten Tage Revue passieren. Wen oder was haben Sie bewertet? Wann haben
Sie bewertet? Beachten Sie, dass Bewertung oft auch stillschweigend stattfindet
und zwar in Ihrem Kopf. Vielleicht kam Ihnen die Nachbarin entgegen und Sie
dachten „Was hat die denn heute für einen komischen Fummel an!“ oder Sie haben
über Ihren Chef gedacht „Der spinnt ja wohl total, mir dieses Projekt auch noch
aufzudrücken.“ Vielleicht haben Sie auch gerade das gemütliche Fahrverhalten
des älteren Herren vor Ihnen bewertet, indem Sie z. B. sagten „Mein Gott Opa,
schlaf nicht ein beim Fahren.“
Vergessen Sie bei diesem Experiment auch nicht die
Bewertung, die Sie über sich selbst abgeben. Wie oft meinen Sie, Sie seien vielleicht
nicht gut genug, hübsch genug, intelligent oder talentiert genug? Wenn Sie z.
B. versehentlich eine Flasche fallen lassen und zu sich selbst sagen „Hach
Idiot, kannst Du nicht aufpassen!“, dann bewerten Sie sich in dem Moment. Schreiben Sie alles an Bewertungen auf, das
Ihnen in den Sinn kommt.
Vielleicht gab es einen Moment, in dem Sie dachten,
Sie seien nicht okay, weil andere über Sie etwas Beurteilendes gesagt haben. Wer
hat jedoch die finale Bewertung gegen Sie letztendlich vorgenommen? Die
anderen? Nein, keineswegs. Es waren SIE selbst. Und zwar nur Sie. Lassen Sie
mich das etwas klarer formulieren. Wenn jemand etwas Bewertendes zu Ihnen sagt,
dann sind das zunächst einmal nur Worte. Neutral. Ohne jegliche Geschichte.
Erst wenn Sie diese Bewertung annehmen und sich selbst an der irrsinnigen
Bewertungs-Skala unserer Gesellschaft messen, entwickeln Sie die dazugehörige
Geschichte, dass Sie vielleicht nicht okay sind.
Sie geben also in dem Moment Ihre eigene Autorität
an ein Bewertungssystem ab, das zum Ziel hat, die Menschen kraftlos und genormt
zu machen. Machen Sie sich das wirklich einmal bewusst:
In dem Moment, in dem Sie sich an einer
Bewertungs-Skala messen,
geben Sie Ihr Zentrum und damit Ihre eigene Autorität ab,
ergo Ihre Kraft.
geben Sie Ihr Zentrum und damit Ihre eigene Autorität ab,
ergo Ihre Kraft.
Lassen Sie das einmal sacken. Wenn Sie sich – oder
auch andere – bewerten, nehmen Sie sich selbst Ihre Kraft und Autorität.
Die spannende Frage, die sich stellt, ist WARUM
bewerten wir überhaupt? Wir bewerten, weil wir in einer Gesellschaft groß
geworden sind, die auf Überleben statt auf Leben ausgerichtet ist, auf
Wettkampf statt auf Gemeinschaft. Wenn Sie einmal die Natur betrachten, dann wird
schnell klar, dass es dort keine Bewertung gibt. Das Bewertungssystem ist also vom
Menschen hausgemacht, sprich von unserer modernen Kultur.
Bei kleinen Kindern können Sie das prima
beobachten. Diese sind zunächst völlig unbekümmert und gehen gänzlich in ihrem
kreativen Spielen auf. Sie überlegen sich nicht, ob sie beim Spielen etwas
„richtig machen“ oder ob jemand das toll findet. Sie spielen einfach. Doch
allerspätestens wenn sie in die Schule kommen, ist ein radikaler Wandel
spürbar. Das Genietum, die Kreativität und Unkompliziertheit lassen mit
zunehmendem Alter nach, bis die Kinder schließlich völlig in das
Bewertungssystem unserer Gesellschaft eingenormt sind (Film Tipp: Film „Alphabet“ von Erwin Wagenhofer).
Durch Bewertung töten wir die vielfältige
Kreativität, Spontaneität und Weisheit, die in uns steckt. Und letztendlich isolieren wir uns in dem
Moment, in dem wir bewerten. Wenn Sie z. B. in einer Situation eine künstlich
erschaffene Bewertungs-Skala ansetzen und infolge dessen deklarieren „Ich bin
nicht okay, oder gut genug“, dann ist der nächste Überlebensmechanismus der
anspringt „Ich ziehe mich zurück, ich gehe, ich mache nicht mit.“ Tatsache ist
jedoch, dass Sie okay sind, egal, was andere sagen, oder welche
Bewertungs-Skala auch immer im Raum steht.
Ja, und nun? Was können Sie jetzt tun, wenn wir
doch jeden Tag Bewertungen konfrontiert werden, wo wir gehen und stehen?
Experiment
2: Installieren Sie einen Bewertungs-Detektor
SCHRITT 1:
Um aus dem Bewertungs-System auszusteigen, ist es
zunächst einmal hilfreich, einen sogenannten Bewertungs-Detektor zu
installieren. Montieren Sie ihn einfach in Ihrer Vorstellungskraft oben an
Ihrem Körper. Meiner sitzt z. B. direkt unterhalb des linken Schlüsselbeins. Er
kann rund oder eckig sein. Egal wie er aussieht, eines steht fest: er blinkt
auf, wenn Sie bewerten oder Ihnen eine Bewertung an den Kopf geschmissen wird.
Seien Sie ab sofort aufmerksam und schauen Sie, wann Bewertung stattfindet. Was
ist der Trigger?
Wenn Sie jemanden oder etwas bewerten, stellen Sie
als nächstes die Frage nach dem warum. Warum haben Sie in dem Moment bewertet? Was
ist die Absicht dahinter?
SCHRITT 2:
Wenn Sie sich das nächste Mal selbst bewerten spüren Sie einmal genau hin, wie Ihre Energie in dem Moment flöten geht. Achten Sie gleichermaßen darauf, was passiert, wenn jemand Sie vielleicht sogar verbal und laut hörbar bewertet und Sie die Geschichte glauben. Spüren Sie bewusst den Schmerz, die Isolation, vielleicht sogar die Wut. Das ist Ihr neuer Referenzpunkt. Sie wissen in dem Moment, wie kraftlos, angepasst und trennend sich Bewertung anfühlt. Lassen Sie sich von diesem Schmerz treffen und transformieren. Wenn Sie bewusst fühlen können, was Bewertung macht, dann ist genau das der Schritt aus dem Bewertungssystem hinaus. Es bedarf einiger Selbst-Beobachtung, doch es lohnt sich, dieses Experiment durchzuführen.
Wenn Sie sich das nächste Mal selbst bewerten spüren Sie einmal genau hin, wie Ihre Energie in dem Moment flöten geht. Achten Sie gleichermaßen darauf, was passiert, wenn jemand Sie vielleicht sogar verbal und laut hörbar bewertet und Sie die Geschichte glauben. Spüren Sie bewusst den Schmerz, die Isolation, vielleicht sogar die Wut. Das ist Ihr neuer Referenzpunkt. Sie wissen in dem Moment, wie kraftlos, angepasst und trennend sich Bewertung anfühlt. Lassen Sie sich von diesem Schmerz treffen und transformieren. Wenn Sie bewusst fühlen können, was Bewertung macht, dann ist genau das der Schritt aus dem Bewertungssystem hinaus. Es bedarf einiger Selbst-Beobachtung, doch es lohnt sich, dieses Experiment durchzuführen.
Es könnte zu Beginn schockierend für Sie sein zu
beobachten, wie oft sie sich selbst oder andere bewerten. Lassen Sie sich auch
davon treffen.
Experiment
3: Steigen Sie aus dem Bewertungssystem aus
Der nächste Schritt besteht darin, aus dem
Bewertungs-System auszusteigen. Ihnen passiert ein Missgeschick? (allein dieses
Wort enthält schon Bewertung) Sehen Sie es neutral. Etwas ist passiert. Punkt.
Es ist nicht gut und nicht schlecht. Sie müssen es nicht bewerten. Ihr Partner
hat erneut vergessen, die Theaterkarten abzuholen? Es ist wie es ist, also
erfinden Sie nicht die Bewertung, dass er deswegen ein Idiot ist.
Und was tun Sie, wenn Sie von jemandem verbal in
einer Unterhaltung destruktiv bewertet werden (z. B. im Sinne von „Du bist
nicht gut genug.“)? Nun ein interessantes Experiment könnte sein zu sagen:
„Vielen Dank für das Geschenk der destruktiven Bewertung. Ich nehme es nicht an
und gebe es Dir hiermit zurück.“ Prüfen Sie vorher, das Timing und die
Situation. Sie können sich diesen Satz sonst auch denken und damit nicht in den
Bewertungs-Ring steigen.
Kürzlich saß ich einem Bekannten in einem Café
gegenüber, der mir 5 Minuten lang zahlreiche bewertende Gründe nannte, warum
das Projekt, das er im Sinn hat, genau das Richtige für ihn sei und deswegen
alles andere Larifari sei, was er sowieso schon kenne und nicht brauche. Mein Bewertungs-Detektor
blinkte wie wild. Doch ich nahm keine der Bewertungen an. Es war seine
Geschichte und nicht meine. Als er mich anschaute und eine Antwort spürbar
erwartete gab ich ihm Feedback, dass diese Art von bewertender Kommunikation
nicht gut und nicht schlecht ist, jedoch zum Resultat hat, dass sie jegliche
Art von authentischem Kontakt und Miteinander zerstört. Ich sagte, ich sei an
einer anderen Art von Miteinander interessiert und fragte ihn, wie es ihm damit
ginge. Er schaute mich an, schluckte
kurz und verstand sofort, was ich meinte. Und genau in dem Moment wurde eine
andere Art der Kommunikation möglich. Es war spürbar, wie die Starre am Tisch,
die sich durch die Bewertung aufgebaut hatte, wie eine Mauer einstürzte und
plötzlich Verletzlichkeit und Miteinander als Werte im Raum waren.
Bewertung ist nichts anderes als Positionierung. Es
ist ein Überlebensmuster, das wir als Kinder ungeprüft übernommen haben. Es
dient der Normung der Gesellschaft, damit weiterhin Konkurrenz und Wettkampf
praktiziert werden und die Menschen voneinander getrennt bleiben, anstatt
kraftvoll und bewertungsfrei ihre eigene Autorität zu sein und ihr volles
Potenzial auszuschöpfen.
Bewertungen schließen jedoch wahre Werte,
Seins-Qualitäten oder helle Prinzipien aus. Um aus dem Bewertungssystem auszusteigen, ist es
daher sehr hilfreich, dass Sie sich bewusst machen, welche Werte oder hellen
Prinzipien Ihnen wichtig sind, wenn Sie mit anderen und auch mit sich selbst
zusammen sind. Wenn Sie bewerten, dann füttern Sie Ihren Gremlin, Ihr inneres
kleines Monster, Ihren inneren Richter, der Schattenaspekte wie Getrenntsein,
Besserwisserei, Rechthaberei, Macht, Arroganz bevorzugt.
Doch was wollen Sie tatsächlich? Was ist Ihnen
wirklich wichtig? Wie wünschen Sie sich, dass andere Menschen mit Ihnen umgehen.
Sind Ihnen da vielleicht Werte wie Miteinander, Teamwork, Liebe, Respekt, Güte,
Großzügigkeit, Wertschätzung und Warmherzigkeit wichtig? Wahre Werte oder helle
Prinzipien haben nichts mit Bewertung zu tun.
Und: wenn Sie andere bewerten und damit auf Getrenntsein
ausgerichtet sind, tun Sie sich das in dem Moment auch selbst an. Selbst wenn
Sie sich in dem Moment gar nicht bewerten, sondern nur den anderen. Wir sind
alle miteinander verbunden und das was Sie der anderen Person oder auch der
Natur antun, tun sie in dem Moment auch sich selbst an.
Was sind also Ihre wahren Werte? Schreiben Sie doch
jetzt einmal 3-4 Werte auf, die Ihnen wichtig sind.
Hier noch einmal die wesentlichen Unterschiede von
Werten und Bewertung:
Wahre Werte / Prinzipien
|
Bewertung / Positionierung
|
Schließen ein
|
Schließt aus
|
Gemeinsamkeiten finden
|
Konkurrenz, Wettkampf
|
Flexibel
|
Starr, unbeweglich
|
Akzeptieren
|
Recht haben wollen
|
Miteinander
|
Getrenntsein / Isolation
|
Eigene Autorität, zentriert sein
|
Autorität abgeben, angepasstes Verhalten
|
Fördern von Kreativität und Genietum
|
Ersticken von Kreativität
|
Authentischer Kontakt
|
Eine unsichtbare Mauer entsteht
|
Offen, frei
|
Enges Korsett
|
Erlauben Verletzlichkeit
|
Erlauben Argumente und Logik
|
Herz-zu-Herz Kommunikation
|
Finden nur im Verstand statt
|
Vielfalt
|
Eintönigkeit
|
Warm
|
Kalt
|
Wenn Sie Ihre wahren Werte, die Ihnen am Herzen
liegen aufgeschrieben haben, prägen Sie sich diese gut ein. Jedes Mal, wenn Ihr
Bewertungs-Detektor aufblinkt, können Sie dann sofort eines oder alle dieser hellen
Prinzipien allein mit Ihrer Absicht in den Raum hineinrufen und eine andere Art
von Kommunikation und Miteinander kreieren (dies ist auch gedanklich möglich,
sie brauchen die Werte nicht laut aussprechen. Die Absicht ist entscheidend).
Lassen Sie sich überraschen, wie viel mehr Energie
und Zeit Ihnen zur Verfügung stehen, wenn Sie aufhören, sich oder andere zu
bewerten. Und seien Sie nicht erstaunt, wenn es wesentlich „stiller“ wird in
Ihnen, entspannter, ruhiger. Denn wenn das Bewertungssystem in Ihnen aktiv ist,
diese unbewusste Bewertungs-Skala gegenwärtig ist, dann stehen Sie permanent
unter Strom und Anspannung. Sobald Sie die Bewertungs-Skala zusammenbrechen
lassen, kann sich auch Ihr physischer Körper und Ihr gesamtes Nervensystem
komplett entspannen. Seien Sie wagemutig. Während andere das Bewertungssystem
noch krampfhaft aufrecht erhalten, können Sie einen neuen Weg gehen.
In diesem Sinne, viel Freude beim Experimentieren
mit Ihrem neu installierten Bewertungs-Detektor.
Herzliche Grüße,
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