Freitag, 15. April 2011

Oh wie schön ist es zu leiden – Über das tägliche zwischenmenschliche Drama

Neulich im Supermarkt: Ich stehe an der Fisch-Theke und möchte frischen Fisch kaufen. Nachdem die Verkäuferin diesen erst in Frischepapier eingewickelt hatte, wollte sie den Fisch zusätzlich in eine spezielle aluminiumbeschichtete Frischhalte-Plastiktüte verpacken. Ich fragte Sie, ob es möglich sei, die Tüte wegzulassen. Darauf sagte eine zweite Verkäuferin, die in 3 Meter Entfernung einen ganz anderen Kunden bediente, zu ihr: „Das darfst Du nicht, wir haben eine Vorschrift und aus Hygienegründen muss der Fisch in die Spezialtüte.“ Die Verkäuferin schaute mich fragend und verunsichert an und sagt dann zur Verkäufern B: „Aber, aber, aber die Dame möchte die Tüte nicht.“ Darauf Verkäuferin B wieder zu Verkäuferin A: „Wenn Du diese Vorschrift nicht befolgst, dann kriegst Du Ärger. Da würde ich mal lieber den Chef fragen.“ Es wurde langsam richtig spannend. Mittlerweile schauten mich nämlich 3 weitere Kunden mit einem Gesichtsausdruck an, der so viel sagte wie „Was ist das denn für eine, warum kann die nicht einfach den Fisch kaufen?“ Verkäuferin A ging also verunsichert und kopfhängend zum Chef, der ihr antwortete, dass es auch in Ordnung sei, wenn ich mir den Fisch in die Hosentasche stecken wolle. Wenn ich darum gebeten hätte, könne sie den Fisch auch ohne Tüte aushändigen. Daraufhin Verkäuferin B: „Was für Vorschriften gelten hier jetzt eigentlich noch. Ständig ändert sich was. Da weiß man ja gar nicht mehr, was man machen soll.“

Diese kleine Anekdote ließ in mir folgende Frage aufkommen: Warum machen wir uns tagtäglich das Leben selbst schwer, indem wir kleine oder große Dramen inszenieren, wenn doch die meisten Menschen eigentlich nur glücklich sein wollen? Das ist doch irgendwie absurd, oder?

Jetzt mögen Sie denken „Also ich bin nicht in solchen Dramen und gifte niemanden an.“ Lassen Sie uns daher gleich mit einem Experiment beginnen.

Experiment 1: Niederes Drama erkennen
Blicken Sie einmal auf die letzten 2 Tage zurück und beantworten Sie ganz ehrlich folgende Frage: Wie oft haben Sie in den letzten 48
  • sich gerechtfertigt,
  • eine Erklärung oder Ausrede angebracht,
  • jemand anderen beschuldigt,
  • eine andere Person ins Unrecht gesetzt,
  • sich über etwas oder jemanden beschwert,
  • darauf bestanden, dass Sie Recht haben,
  • über jemand anderen gelästert,
  • Groll gegen jemanden gehegt,
  • jemanden versucht zu manipulieren oder zu kontrollieren, oder
  • eine Diskussion mit jemandem geführt?
Hand auf’s Herz: haben Sie einen oder mehrere Treffer? Dann waren Sie im niederen Drama. Dabei ist es völlig unerheblich, ob Sie direkt mit einer Person im Gespräch waren, oder einen Dialog im Kopf geführt haben. Beides ist sogenanntes niederes Drama und entzieht Ihnen Energie. Was bedeutet niederes Drama nun genau?

Die Ursprünge stammen von Dr. Stephen Karpman, der das sogenannte Drama-Dreieck entwickelt hat. Er fand heraus, dass wir tagtäglich in verschiedene Rollen schlüpfen, die – wie bei einem Krimi - aus 3 Haupt-Charakteren bestehen: Opfer, Täter und Retter. Was denken Sie ist der stärkste Charakter?... Es ist das Opfer. Ohne Opfer gäbe es kein niederes Drama. Das Opfer besitzt zudem die Macht, jeden zum Täter zu machen.

Niederes Drama ist jede Handlung, die darauf ausgerichtet ist, Verantwortung zu vermeiden. Dieses Spiel basiert auf einem Mangel-Denken. Es gibt nicht genug Liebe, nicht genug tolle Jobs, nicht genug vom größten Tortenstück, nicht genug Anerkennung und Wertschätzung, nicht genug Urlaub und nicht genug Sonnentage. Kennen Sie jemanden, der sich schon einmal beschwert hat, dass das Wetter wieder einmal abscheulich und viel zu kalt sei? BEEP – niederes Drama. Waren Sie vielleicht schon einmal mit einem Bekannten verabredet, der zu spät kam und hörten sich sagen: „Mann, immer bist Du zu spät.“ Oder wie ist es mit Ihrem Partner? Hat er schon einmal die Tomaten falsch geschnitten oder die Zahnpasta Tube falsch ausgedrückt? Voilà, niederes Drama. Verfluchen Sie gelegentlich beim Autofahren einen anderen Fahrer, der Sie gerade geschnitten hat, oder beschweren Sie sich gerne, wenn Sie im Stau stehen? BEEP – auch das ist niederes Drama.

Jeder Streit, jeder abwertende Gedanke, jede Beschwerde, jede Rechtfertigung ist niederes Drama. Und – traurig genug - es ist das beliebteste Spiel in unserer Gesellschaft. Wenn Ihnen die Dramen im eigenen Leben ausgehen, brauchen Sie nur die Zeitung aufschlagen oder den Fernseher einschalten. Warum denken Sie sind die ganzen täglichen Soap Operas wie Lindenstraße oder Gute Zeiten-Schlechte Zeiten so beliebt?

Jede Charakterrolle im niederen Drama agiert aus einem bestimmten Gefühl heraus. Das Opfer agiert aus unbewusster Traurigkeit und denkt „Ich bin nicht okay, ich kann es nicht, ich bin nicht gut genug.“ Der Täter hingegen agiert aus der unbewussten Wut heraus und sagt über das Opfer (überspitzt formuliert) „Du bist nicht okay, also werde ich dich los.“ Der Retter hingegen agiert aus dem unbewussten Gefühl der Angst heraus und sagt über das Opfer „Du bist nicht okay, Du kannst es nicht und deswegen mache ich es für Dich.“

Neulich fragte mich ein Bekannter: „Moment, warum bin ich im niederen Drama, wenn ich jemandem doch nur helfen möchte?“ Das ist in der Tat ein guter Einwand. Gehören Sie auch zu den Menschen mit Helfersyndrom? Ich gehörte lange dazu. Ich hatte immer gleich eine Lösung parat, wenn jemand ein Problem hatte und habe unglaublich gerne für andere die Dinge gelöst. Wenn Sie jedoch jemanden retten, dann bieten Sie ungefragte Hilfe an. Das ist gegenüber dem Opfer absolut respektlos, denn damit kommunizieren Sie unterschwellig, dass das Opfer es Ihrer Meinung nach sowieso nicht kann. Eltern retten gerne ihre Kinder. Haben Sie einmal einen 3-Jährigen gesehen, der versucht hat, einen Turm aus Bauklötzen zu bauen? Wenn ein Erwachsener jetzt zu ihm kommt und sagt: „Schau mal, das geht so“ und den Turm einfach baut, was passiert dann? Richtig, der Knirps wird im nächsten Moment den Turm umhauen, weil er es selbst rausfinden und lernen möchte. Das gleiche können wir auf die Welt der Erwachsenen übertragen, nur dass unsere Probleme ein wenig komplexer sind.

Ein Trainingsteilnehmer sagte kürzlich „Moment, wenn mein Nachbar, mein Partner und ein Kollege sich anders verhalten würden, dann wäre ich auch wirklich glücklich und bräuchte mich nicht beschweren.“ Geht es Ihnen ähnlich oder haben Sie dies schon einmal gedacht? Warten Sie darauf, dass jemand anderes sich ändert, damit es Ihnen besser geht? Viel Erfolg. Damit sind Sie gerade in der Opferrolle und machen andere für Ihr Unglück oder Unwohlsein verantwortlich. Sie vermeiden die Verantwortung für Ihr eigenes Leben.

Die Frage ist, warum wir ständig diese Dramen inszenieren? Welchen Nutzen ziehen wir daraus?

Experiment 2: Welchen Nutzen ziehen Sie aus niederem Drama?
Nehmen Sie sich einmal ein Blatt Papier und lassen Sie eine der Situationen von niederem Drama, die Sie im ersten Experiment aufgedeckt haben, Revue passieren. Rufen Sie sich die Situation noch einmal genau vor Augen. Und jetzt stellen Sie sich einmal die Frage, welchen Nutzen oder Vorteil Sie daraus gezogen haben. Was hatten Sie davon? Schauen Sie genau hin und seien Sie ehrlich. Was hat Ihnen der Streit, die Diskussion, die Rechtfertigung, die Beschwerde gebracht? Warum haben Sie das gemacht?

Na, haben Sie offen und ehrlich Ihren Nutzen darlegen können? Hier einige Beispiele, warum niederes Drama so attraktiv erscheint:
  • Ich muss mich nicht verändern, sondern kann auf meinem alten Standpunkt beharren.
  • Ich fühle mich sicher.
  • Ich bekomme dadurch Aufmerksamkeit.
  • Ich bekomme dadurch Mitgefühl.
  • Ich muss keine Verantwortung übernehmen.
  • Ich fühle mich stark.Ich kann dominieren.
  • Ich muss meine Schwäche nicht zugeben.
  • Ich kann die Intensität von Nähe und Vertrautheit vermeiden.
  • Ich kann Rache üben (denn als Opfer kann ich sofort beweisen, dass jemand der Täter ist und dann habe ich das Recht mich zu rächen)
  • Ich kann beweisen, dass ich Recht habe.
Diese Punkte klingen wirklich attraktiv, oder? Aber ehrlich, durch niederes Drama ändert sich gar nichts. Das einzige, was Sie durch niederes Drama erreichen ist, dass Sie älter werden. Niederes Drama ist ein Festmahl für den Gremlin in uns, das kleine Monster, das Liebe, Nähe, Vertrautheit und Beziehung auffrisst (mehr darüber in meinem Artikel „Nehmen Sie Ihr Monster an die Leine“).

Nun höre ich die durchaus berechtigte Frage: „Ja und? Wie kann ich das jetzt vermeiden?“

Experiment 3: Wie Sie niederes Drama vermeiden
Entscheidend ist, dass Sie Ihre Wahrnehmung zunächst einmal schärfen, damit Sie niederes Drama erkennen. Schauen Sie zur Übung zum Beispiel einmal ganz bewusst eine Daily Soap Fernsehserie an. Sie können in jeder Szene glasklar die verschiedenen Rollen zuordnen: Opfer, Täter, Retter. Niederes Drama pur! Probieren Sie es einmal aus. Anschließend schauen Sie einmal bewusst Ihre eigenen zwischenmenschlichen Aktionen an. Wo, wann und mit wem sind Sie im niederen Drama?

Sie werden vielleicht die Erfahrung machen, dass Sie im Nachhinein niederes Drama erkennen: „Oh man, vorhin war ich tatsächlich im niederen Drama. Ich habe mit Gerhard gestritten.“ Geißeln Sie sich in dem Fall nicht selbst, sondern seien dankbar, dass Sie es gemerkt haben. Das ist ein entscheidender Schritt.

Dann wird der Moment kommen, in dem Sie feststellen, dass Sie jetzt gerade, in diesem Augenblick in einem niederen Drama sind und dann wird es spannend. Wenn Sie schon am Drama-Haken sind, oder Ihr Gegenüber Sie in ein Drama hineinziehen möchte, wie kommen Sie da heraus? Wie umschiffen Sie das Ganze? Hier einige Möglichkeiten, die Sie ausprobieren können:
  1. Verlassen Sie kurz den Raum mit den Worten: „Du, entschuldige bitte, ich bin sofort wieder da. Ich gehe kurz auf die Toilette.“ Dann gehen Sie raus, drehen sich auf der Toilette einmal um sich selbst und kommen mit der Absicht in den Raum zurück, ein konstruktives, beziehungsförderndes Gespräch zu führen.

  2. Benennen Sie das, was gerade passiert: „Du, ich nehme wahr, dass wir uns in einem Drama befinden und streiten. Jeder von uns möchte Recht haben und das macht mich traurig. Worum geht es hier wirklich? Was ist unsere Absicht?“ Sofort ist das Gespräch auf einer anderen Ebene, der sogenannten Metaebene und Sie führen ein Gespräch über das Gespräch.

  3. Bringen Sie Humor ins Spiel. Damit ist nicht gemeint, dass Sie den anderen lächerlich machen, sondern einen anderen „Drall“ in die Unterhaltung bringen, z. B. „Wusstest Du, dass man pro Stunde 1 neues graues Haar generiert, wenn man so diskutiert wie wir gerade?“

  4. Gehen Sie nicht-linear und kreativ vor und lenken Sie das Gespräch weg vom Drama. Wenn sich z. B. jemand bei Ihnen beschwert „Oh man, hier gibt es mal wieder nichts zu trinken in dieser Besprechung. Wie immer. Das finde ich so ätzend. Was sagst Du denn dazu?“ Greifen Sie ein Wort oder einen Gedanken aus dem Drama auf und gehen Sie mit der Unterhaltung ganz woanders hin: „Apropos trinken, neulich habe ich gelesen, dass die Tiere in der afrikanischen Savanne mehrere Tage ohne Wasser auskommen können. Warst Du schon mal in Afrika?“

  5. Weichen Sie dem Drama-Haken, den jemand ausschmeißt aus, indem Sie zustimmen. Viele Dramen entstehen allein dadurch, dass jemand sagt „Ja, aber…“ Es ist in unserer Gesellschaft so normal, „Ja, aber“ zu sagen. Damit geben Sie jedoch tatsächlich zu verstehen, dass alles, was der andere vorher ausgeführt hat, hinfällig ist und keinerlei Gültigkeit hat. Die Macht der Formulierung „Ja, aber“ ist sehr subtil und unglaublich kraftvoll, denn damit setzen Sie die andere Person herab. Wenn Sie zu einem Thema eine andere Meinung haben, wäre eine Möglichkeit mit „Ja, UND wie wäre es mit dieser Idee: …“zu antworten. Damit kann der Drama Haken bei Ihnen nicht landen, weil Sie in dem Moment ein JA für die andere Person sind. Sie erkennen an, was Ihr Gegenüber gesagt hat und können anschließend Ihren Aspekt anführen.

  6. Ein ganz entscheidender Punkt, um niederes Drama zu vermeiden ist zudem, dass Sie VON SICH SELBST SPRECHEN. Vermeiden Sie zu sagen „Du hast ja das-und-das gemacht/gesagt.“Sagen Sie der anderen Person stattdessen, wie es Ihnen geht und was bei Ihnen angekommen ist: „Was ich Dich habe sagen hören, ist ...“ oder „Bei mir kommt es so-und-so an und das macht mich wütend / ängstlich / traurig / froh, weil….“Dadurch kommen Sie erst gar nicht in diese bleischwere Rechtfertigungs- und Beschuldigungsschleife.“

  7. Bleiben Sie neutral. Vielleicht ist der andere gerade gestresst oder hatte einfach einen schlechten Tag. Versuchen Sie in einer neutralen Lücke zu bleiben. Das können Sie z. B. üben, indem Sie Ihren Partner oder eine Freundin bitten zu versuchen, Sie zum Lachen zu bringen. Finden Sie die neutrale Lücke in Ihrem Kopf, sodass Sie nicht lachen. Gleiches können Sie dann auf das niedere Drama übertragen. Sie sehen, wie der andere im Drama ist und sich aufregt, aber müssen nicht mit einsteigen. Sie können auch bildhaft im Kopf ein Schild aufstellen mit der Aufschrift „STOP! Da nicht hingehen!“

Mit ein wenig Übung werden Sie schon bald niederes Drama aus 10 Meter Entfernung erkennen und sagen können: „Oh, da hinten kommt ein niederes Drama“. Und das ist dann der Moment, wo Sie niederes Drama schon im Vorfeld vermeiden und eine völlig neue Art des Kontakts und der Beziehung erschaffen können.

Wundern Sie sich übrigens nicht, wenn sie plötzlich viel mehr Energie zur Verfügung haben und nicht mehr so gestresst sind. Niederes Drama entzieht uns unglaublich viel Energie und die steht ihnen zur freien Verfügung, sobald sich Ihr inneres Monster nicht mehr von niederem Drama ernährt.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine entspannte, Drama-freie Zeit und viel Energie.

Herzliche Grüße,
Ihre Nicola Nagel



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