Ein
Irrglaube, der sich über Jahrzehnte etabliert hat und heute in der Wirtschaf
fast durchgängig noch ein gelebt wird lautet: Verletzlichkeit ist
unprofessionell. Wer im Business Leben bestehen und die Karriereleiter weiter
nach oben klettern möchte, braucht stattdessen einen gewissen Drall, eine Art
Härte, Unverfrorenheit, Abgebrühtheit und muss - wie es gerne heutzutage
genannt wird - resilient sein. Resilient
bedeutet nichts anderes, als in der Lage zu sein, dem Stress und Druck im Job
standzuhalten.
Es gibt
unzählige Trainings, die genaue Methoden anbieten, wie Sie Stress noch besser
in den Griff bekommen und aufkommende Gefühle wie Angst oder Wut in Schach
halten können. Schließlich geht es im Job um Leistung, tagein tagaus. Wen
wundert es da, dass sich morgens an den Eingangstüren der Firmen fast
durchgängig das gleiche Spiel abspielt: Viele Mitarbeiter hängen bildlich
gesprochen ihr Herz an der Eingangstür an einen Garderobenständer, setzen ihre
Business Maske auf und ziehen ihren Kampfhelm an. Sie schalten regelrecht in
einen anderen Modus, wechseln die Identität, was sich für viele symbolisch in
der Kleidung darstellt und widmen sich voll und ganz logischen Tatsachen, Argumenten,
langweiligen Meetings, Ablaufplänen und Vorgaben, um vermeintlich professionell
den Tag zu bestehen. Doch professionell gegenüber wem? In der Regel gegenüber
anderen Menschen, die gleichermaßen eine Business Maske tragen. Ist das nicht eine
Farce?
Diese
Business Maske ist nicht gut und nicht schlecht. Sie ist einfach eine
wohlbekannte, meist übernommene oder individuell angepasste Schutz- bzw.
Überlebens-Strategie, um im Dschungel der Fakten, Zahlen, Gewinne, Ziele,
Leistungsbewertungen und begrenzten Karriereposten zu bestehen. Was jedoch
dabei komplett auf der Strecke bleibt, ist die Authentizität und die
Menschlichkeit. Sicherlich gibt es in vielen Firmen unter Kollegen auch herzliche
Kontakte; für viele die letzte Rettung, um im Alltag überhaupt durchzuhalten in
einem Job, den die wenigsten aus Leidenschaft machen. Gleichzeitig wird jedoch
immer offensichtlicher, dass sich die Zeiten der kühlen, professionellen
Business Maske dem Ende neigen. Die steigenden Raten für Burnout und andere
psychosomatische Krankheiten sind nur ein Zeichen dafür, dass die Menschen am
Anschlag sind und es höchste Zeit für einen Wandel ist. (Als Hintergrund-Information: Gemäß dem deutschen Fehlzeitenreport 2015
hat sich die Burnout-Rate zwischen 2005 und 2014 versiebenfacht. 13 Millionen
Arbeitnehmer in Deutschland sind nach Schätzungen von Gesundheitsexperten und
Krankenkassen von Burnout betroffen. Arbeitsunfähigkeitstage wegen psychischen
Erkrankungen haben im Zeitraum von 1997 bis 2012 um 260 Prozent zugenommen,
während körperliche Erkrankungen und Verletzungen als Ursache von
Arbeitsunfähigkeitstagen stabil geblieben sind. Bereits jeder fünfte
Arbeitnehmer leidet unter gesundheitlichen Stressfolgen – von Schlafstörungen
bis zum Herzinfarkt. Quelle: „Deutscher Fehlzeitenreport“ und „TK
Gesundheitsreport & KKH-Allianz & WHO & Stressreport Deutschland“)
Das Modell
des Menschen als funktionierende Maschine funktioniert nicht mehr. Doch was
nun? Die Art des Miteinanders in Firmen könnte in Zukunft ganz anders aussehen.
Eine Rückbesinnung auf Werte wie Menschlichkeit und Authentizität ist ein
wesentlicher Teilaspekt dessen. Doch um dort hinzugelangen, ist es notwendig,
dass mit dem eingangs erwähnten Irrglauben – Verletzlichkeit ist
unprofessionell – aufgeräumt wird.
An dieser
Stelle ist es sinnvoll einmal zu betrachten, was Verletzlichkeit im Job überhaupt
bedeutet bzw. wie Verletzlichkeit dort belegt ist.
Verletzlichkeit – Alte
Sicht
|
Verletzlichkeit – Neue
Sicht
|
Ein
Zeichen von Schwäche
|
Ein
Zeichen von Stärke
|
Ich bin
angreifbar
|
Authentisch
|
Unprofessionell
|
Wärme,
Herzlichkeit, Miteinander
|
Destruktive
Gefühlsausbrüche
|
Gefühle
verantwortlich und bewusst nutzen
|
Ich habe
mich nicht im Griff
|
Ich
besitze meine Gefühle
|
Rückzug
|
Schafft
neue Räume von Miteinander
|
Ich muss
mich um jeden Preis schützen
|
Ich kann
mit bewusster Wutkraft Grenzen setzen, wenn ich mich verletzlich zeige
|
Zu weich
für den Job
|
Menschlich,
nahbar
|
Empfindlichkeit
|
Feinspürig
|
Nicht
belastbar
|
„Gesund“
belastbar (resilient in einem neuen Kontext)
|
Nicht
entscheidungsfähig
|
Entscheidungsfähig
|
Sensibel
|
Klar,
mitfühlend
|
Besser
nicht aussprechen
|
Eröffnet
eine neue Art der Kommunikation
|
Trennung
im Team. Leute, die sich verletzlich zeigen, sind schnell Außenseiter, werden
als Last gesehen.
|
Nachhaltige
Team-Bindung
|
Aus dem
Kontakt gehen
|
In
aufrichtigem Kontakt sein
|
Wie in
dieser Gegenüberstellung bereits ersichtlich ist, wird Verletzlichkeit vielfach
in Verbindung mit Gefühlen gesehen, und da beginnt der Teufelskreis. Lassen Sie
uns daher das Thema Gefühle kurz betrachten.
Die
Haltung der modernen Gesellschaft in Bezug auf Gefühle basiert auf der Annahme,
dass Gefühle nicht okay sind – grundsätzlich und erst recht nicht im Job. Wer
Gefühle im Job zeigt, gilt als schwach, unprofessionell und nicht resilient.
Insgesamt gibt es vier große Gefühlsterritorien, die unterschieden werden
können: Wut, Traurigkeit, Angst und Freude. Es gibt noch weitere Begriffe für
Gefühle, die jedoch häufig zu einem der großen Territorien gehören (z. B.
gehört Nervosität in das Territorium der Angst, während Groll in das Territorium der Wut gehört)
oder aber eine Vermischung von Gefühlen darstellen.
Unter der
Annahme, dass Gefühle nicht okay sind, ist es somit nicht verwunderlich, dass
die meisten Menschen vermeintliche Resilienz beweisen, indem sie die Gefühle
irgendwie unterdrücken, runterschlucken und betäuben. Doch anstatt
tatsächlicher Resilienz, also Widerstandskraft gegen Stress, werden sie immer
schwächer, landen im Burnout oder haben andere psychosomatische Krankheiten
(ziehen Sie einmal in Betracht, dass diese Krankheiten eine Vermischung von
unbewussten, unausgedrückten Gefühlen über einen sehr langen Zeitraum sein
können). Resilienz bedeutet in unserer Gesellschaft und Business Welt, die
Taubheitsschwelle (also die Schwelle bei der Sie ein Gefühl überhaupt fühlen)
möglichst hoch zu halten, beispielsweise durch Essen, Fernsehen, exzessiven
Sport, Internet, Social Media, Shoppen, Alkohol, Zigaretten und sonstige
Drogen. Gefühle, die jedoch nur betäubt werden und keinen bewussten Ausdruck
finden, schlagen sich langfristig auf die Gesundheit nieder.
Die
folgende Grafik zeigt, warum es unter der oben genannten, gängigen Annahme,
nicht okay ist, das jeweilige Gefühl zu fühlen:
Das
Problem ist an dieser Stelle möglicherweise die Lösung. Wie wäre es, wenn die
Lösung darin läge, eine neue Perspektive auf Gefühle einzunehmen und die
Taubheitsschwelle bewusst herabzusetzen während Sie Ihre Gefühle und die darin
liegende Kraft wieder bewusst und verantwortlich in Besitz nehmen? Eine
neue Sichtweise in Bezug auf Gefühle basiert auf der Annahme, dass Gefühle
neutrale Energie und Information sind, die Ihnen dienen, sowohl privat, als
auch im Job. Sie sind wie ein inneres Navigationssystem, dass Sie zielsicher
durchs Leben leitet. Wenn Sie diese neue Annahme treffen, wie könnten Ihnen die
Gefühle dann als neutrale Energie und Information dienen?
Beachten
Sie bei dieser neuen Landkarte, dass insbesondere die Traurigkeit Ihnen dazu
dient, verletzlich zu sein, authentisch in Verbindung mit anderen Menschen zu
treten und empathisch zu sein. Soll es also wieder authentisch menschlich in
den Unternehmen werden, ist es unabdingbar, die Kraft der Traurigkeit wieder in
Besitz zu nehmen und bewusst zu nutzen.
Die
Energie und Kraft der Gefühle wieder bewusst in Besitz zu nehmen, erfordert einen
geschützten Trainingsraum. Es geht dabei nicht um Katharsis, die dazu dient,
die Gefühle im Wald einfach raus zu lassen, um sie loszuwerden. Bei der
bewussten Inbesitznahme Ihrer Gefühle geht es vielmehr um Kathexis, d. h., die
Gefühle bewusst bis zu einem Maximum von 100% im Körper zu fühlen und die körperliche
Erfahrung zu machen, dass Sie größer sind als das jeweilige Gefühl. Daraus
entwickelt sich eine Stärke, die Ihnen niemand nehmen kann. Sie aktivieren
wieder Ihr inneres Navigationssystem und können es anschließend nutzen, indem
Sie klar und bewusst die Energie und Information eines jeden Gefühls anzapfen,
sobald es auftaucht und dann beispielsweise in der Firma bei Ihren Kollegen konkret
für Klarheit sorgen.
Der
Gedanke, die Gefühle dann auch tatsächlich im Job wieder einzubringen und zu
nutzen, mag für einige beängstigend klingen. Schließlich haben viele
Mitarbeiter und Kollegen möglicherweise jahrelang alles dafür getan, um die Gefühle
zu deckeln und sie nicht zu äußern.
Doch
ziehen Sie einmal folgendes in Betracht:
Die Erde
braucht dringend Menschen, die Zugang zu eben dieser inneren Gefühlskraft
haben, um mehr und mehr Menschlichkeit und Authentizität zurück ins Leben und
in die Business Welt zu bringen, eine
andere Art von Arbeit ermöglichen, eine andere Art von Miteinander und eine
andere Art von Umgang mit der Erde. Die Erde braucht Menschen, die wieder
bewusst fühlen können.
Gefühlskalte,
knallharte, auf Konkurrenz gepolte, selbstgemachte Psychopathen, die auf der
Hierarchie-Karriereleiter immer weiter nach oben steigen und die Dollarzeichen
oder eine bestimmte Position im Auge haben, hatten wir nun lange genug. Das ist
keine Wertung. Selbstgemachte Psychopathen, sind Menschen, die ihre Gefühle
abgeschaltet haben, um im patriarchischen Kontext überleben und möglichst weit
nach oben zu kommen, um im herkömmlichen Sinne vermeintlich erfolgreich zu
sein. Wie eingangs erwähnt, funktioniert dieses Spiel jedoch nicht mehr. Es hat
Resultate produziert, die die Menschen und die Erde krank machen. Die meisten
Menschen sehnen sich nach authentischem Kontakt und danach, dass sie sich so
zeigen können, wie sie sind, ohne Angst haben zu müssen, dafür ausgegrenzt oder
abgewertet zu werden.
Verletzlichkeit
im neuen Sinne ist eine unglaubliche Stärke, eine Ressource, die Sie nutzen
können, um eine neue Bewegung und letztendlich einen neuen Kontext in dem
Unternehmen, in dem Sie arbeiten, zu etablieren. Sie können beginnen einen
Kontext von Authentizität, aufrichtigem Kontakt, Liebe und kreativer
Kollaboration aufzubauen. Logik und Härte konnten die bisherigen Führungskräfte
und zielorientierten Kollegen im Business Kontext handhaben. Das kennen sie und
haben sie jahrelang praktiziert. Sie sind grandios darin, Positionen zu
verfechten und durch messerscharfe Argumente oder Vorgaben, andere in Schach zu
halten.
Verletzlichkeit
im neuen Sinne (also inklusive der verantwortlichen Erschließung der bewussten
Gefühlskraft und Nutzung der Traurigkeit) können diese Business Leute nicht
handhaben. Ab sofort haben Sie also eine neue Wahl: Sie können entweder das
alte Spiel weiter spielen, oder Sie können eine neue Bewegung in Ihrer Firma
starten, indem Sie sich verletzlich zeigen und authentisch sind und dadurch
führen. Sogenannte Edgeworker – also
Personen, die bereit sind, eine neue Richtung in einer Firma einzuschlagen,
egal auf welcher Ebene – sind authentisch, menschlich, nahbar und Teil des
Teams. Sie teilen authentisch mit, was sie gerade wahrnehmen und vertrauen
ihrer Gefühlskraft, um Klarheit im Team und in der Firma zu schaffen. Im alten
Sinne wären Sie verletzlich, wenn Sie Gefühle teilen oder zum Einsatz bringen,
insbesondere Traurigkeit oder Angst. Sie wären angreifbar. Sobald Sie jedoch Ihre
Gefühlskraft erschließen, haben Sie – selbst wenn Sie sich authentisch und
verletzlich mitteilen – die Möglichkeit, sich jederzeit durch die Nutzung Ihrer
bewussten Wutkraft zu schützen, indem Sie beispielsweise klare Grenzen setzen. Das eine bedingt also das andere. Mit bewusster, verantwortlicher Wut als Ressource im Hintergrund
können Sie sich jederzeit verletzlich zeigen (indem Sie bewusst die Kraft der
Traurigkeit nutzen).
Wie können
Sie erste Schritte in Richtung mehr Verletzlichkeit und Authentizität
unternehmen?
Eine
Möglichkeit besteht darin, sich in den nächsten Tagen bewusst zu machen, was
sie fühlen, wenn Sie beispielsweise in Besprechungen mit Kollegen sind.
Beginnen Sie, sich selbst zu beobachten. Was fühlen Sie? Wann halten Sie sich zurück,
obwohl Sie einen ganz klaren Impuls verspüren, dass etwas im Team nicht stimmig
ist oder eine Entscheidung getroffen wird, die Sie nicht mittragen können?
Beginnen Sie dann bei kleineren Gelegenheiten zu äußern, wie Sie sich fühlen.
Sich verletzlicher zu zeigen beginnt mit der klaren Kommunikation „Ich fühle
mich wütend/ängstlich/traurig/froh…, weil…“ Probieren Sie dies zunächst einmal
in Ihrem Team. Wenn Sie voran gehen in der Kommunikation und in der Art, wie
Sie sich verletzlich zeigen, ermutigen Sie dadurch automatisch die anderen,
sich auch verletzlicher zu zeigen. Sie wünschen sich ein anderes Miteinander im
Arbeitsumfeld oder haben die Vision einer völlig anderen Zusammenarbeit? Warten
Sie nicht darauf, dass andere beginnen. Der Job liegt auf Ihrem Tisch. Gehen
Sie den ersten Schritt. Die Erde und die Menschen brauchen mutige Pioniere, die
bereit sind, diesen neuen Weg in Richtung Menschlichkeit einzuschlagen und sich
für eine andere Spielwelt zu entscheiden. Sie können solch ein Pionier sein. Sind
Sie dabei?
Herzliche
verletzliche Grüße,
Ihre
Nicola Nagel
EMPOWERING PEOPLE - FACILITATING CHANGE!
www.viva-essenza.com