Montag, 11. April 2016

NEXT CULTURE WORK: Stärke durch Verletzlichkeit



Ein Irrglaube, der sich über Jahrzehnte etabliert hat und heute in der Wirtschaf fast durchgängig noch ein gelebt wird lautet: Verletzlichkeit ist unprofessionell. Wer im Business Leben bestehen und die Karriereleiter weiter nach oben klettern möchte, braucht stattdessen einen gewissen Drall, eine Art Härte, Unverfrorenheit, Abgebrühtheit und muss - wie es gerne heutzutage genannt wird - resilient sein. Resilient bedeutet nichts anderes, als in der Lage zu sein, dem Stress und Druck im Job standzuhalten.

Es gibt unzählige Trainings, die genaue Methoden anbieten, wie Sie Stress noch besser in den Griff bekommen und aufkommende Gefühle wie Angst oder Wut in Schach halten können. Schließlich geht es im Job um Leistung, tagein tagaus. Wen wundert es da, dass sich morgens an den Eingangstüren der Firmen fast durchgängig das gleiche Spiel abspielt: Viele Mitarbeiter hängen bildlich gesprochen ihr Herz an der Eingangstür an einen Garderobenständer, setzen ihre Business Maske auf und ziehen ihren Kampfhelm an. Sie schalten regelrecht in einen anderen Modus, wechseln die Identität, was sich für viele symbolisch in der Kleidung darstellt und widmen sich voll und ganz logischen Tatsachen, Argumenten, langweiligen Meetings, Ablaufplänen und Vorgaben, um vermeintlich professionell den Tag zu bestehen. Doch professionell gegenüber wem? In der Regel gegenüber anderen Menschen, die gleichermaßen eine Business Maske tragen. Ist das nicht eine Farce?

Diese Business Maske ist nicht gut und nicht schlecht. Sie ist einfach eine wohlbekannte, meist übernommene oder individuell angepasste Schutz- bzw. Überlebens-Strategie, um im Dschungel der Fakten, Zahlen, Gewinne, Ziele, Leistungsbewertungen und begrenzten Karriereposten zu bestehen. Was jedoch dabei komplett auf der Strecke bleibt, ist die Authentizität und die Menschlichkeit. Sicherlich gibt es in vielen Firmen unter Kollegen auch herzliche Kontakte; für viele die letzte Rettung, um im Alltag überhaupt durchzuhalten in einem Job, den die wenigsten aus Leidenschaft machen. Gleichzeitig wird jedoch immer offensichtlicher, dass sich die Zeiten der kühlen, professionellen Business Maske dem Ende neigen. Die steigenden Raten für Burnout und andere psychosomatische Krankheiten sind nur ein Zeichen dafür, dass die Menschen am Anschlag sind und es höchste Zeit für einen Wandel ist. (Als Hintergrund-Information: Gemäß dem deutschen Fehlzeitenreport 2015 hat sich die Burnout-Rate zwischen 2005 und 2014 versiebenfacht. 13 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland sind nach Schätzungen von Gesundheitsexperten und Krankenkassen von Burnout betroffen. Arbeitsunfähigkeitstage wegen psychischen Erkrankungen haben im Zeitraum von 1997 bis 2012 um 260 Prozent zugenommen, während körperliche Erkrankungen und Verletzungen als Ursache von Arbeitsunfähigkeitstagen stabil geblieben sind. Bereits jeder fünfte Arbeitnehmer leidet unter gesundheitlichen Stressfolgen – von Schlafstörungen bis zum Herzinfarkt. Quelle: „Deutscher Fehlzeitenreport“ und „TK Gesundheitsreport & KKH-Allianz & WHO & Stressreport Deutschland“)

Das Modell des Menschen als funktionierende Maschine funktioniert nicht mehr. Doch was nun? Die Art des Miteinanders in Firmen könnte in Zukunft ganz anders aussehen. Eine Rückbesinnung auf Werte wie Menschlichkeit und Authentizität ist ein wesentlicher Teilaspekt dessen. Doch um dort hinzugelangen, ist es notwendig, dass mit dem eingangs erwähnten Irrglauben – Verletzlichkeit ist unprofessionell – aufgeräumt wird.

An dieser Stelle ist es sinnvoll einmal zu betrachten, was Verletzlichkeit im Job überhaupt bedeutet bzw. wie Verletzlichkeit dort belegt ist.

Verletzlichkeit – Alte Sicht
Verletzlichkeit – Neue Sicht
Ein Zeichen von Schwäche
Ein Zeichen von Stärke
Ich bin angreifbar
Authentisch
Unprofessionell
Wärme, Herzlichkeit, Miteinander
Destruktive Gefühlsausbrüche
Gefühle verantwortlich und bewusst nutzen
Ich habe mich nicht im Griff
Ich besitze meine Gefühle
Rückzug
Schafft neue Räume von Miteinander
Ich muss mich um jeden Preis schützen
Ich kann mit bewusster Wutkraft Grenzen setzen, wenn ich mich verletzlich zeige
Zu weich für den Job
Menschlich, nahbar
Empfindlichkeit
Feinspürig
Nicht belastbar
„Gesund“ belastbar (resilient in einem neuen Kontext)
Nicht entscheidungsfähig
Entscheidungsfähig
Sensibel
Klar, mitfühlend
Besser nicht aussprechen
Eröffnet eine neue Art der Kommunikation
Trennung im Team. Leute, die sich verletzlich zeigen, sind schnell Außenseiter, werden als Last gesehen.
Nachhaltige Team-Bindung
Aus dem Kontakt gehen
In aufrichtigem Kontakt sein

Wie in dieser Gegenüberstellung bereits ersichtlich ist, wird Verletzlichkeit vielfach in Verbindung mit Gefühlen gesehen, und da beginnt der Teufelskreis. Lassen Sie uns daher das Thema Gefühle kurz betrachten.

Die Haltung der modernen Gesellschaft in Bezug auf Gefühle basiert auf der Annahme, dass Gefühle nicht okay sind – grundsätzlich und erst recht nicht im Job. Wer Gefühle im Job zeigt, gilt als schwach, unprofessionell und nicht resilient. Insgesamt gibt es vier große Gefühlsterritorien, die unterschieden werden können: Wut, Traurigkeit, Angst und Freude. Es gibt noch weitere Begriffe für Gefühle, die jedoch häufig zu einem der großen Territorien gehören (z. B. gehört Nervosität  in das Territorium der Angst, während Groll in das Territorium der Wut gehört) oder aber eine Vermischung von Gefühlen darstellen.

Unter der Annahme, dass Gefühle nicht okay sind, ist es somit nicht verwunderlich, dass die meisten Menschen vermeintliche Resilienz beweisen, indem sie die Gefühle irgendwie unterdrücken, runterschlucken und betäuben. Doch anstatt tatsächlicher Resilienz, also Widerstandskraft gegen Stress, werden sie immer schwächer, landen im Burnout oder haben andere psychosomatische Krankheiten (ziehen Sie einmal in Betracht, dass diese Krankheiten eine Vermischung von unbewussten, unausgedrückten Gefühlen über einen sehr langen Zeitraum sein können). Resilienz bedeutet in unserer Gesellschaft und Business Welt, die Taubheitsschwelle (also die Schwelle bei der Sie ein Gefühl überhaupt fühlen) möglichst hoch zu halten, beispielsweise durch Essen, Fernsehen, exzessiven Sport, Internet, Social Media, Shoppen, Alkohol, Zigaretten und sonstige Drogen. Gefühle, die jedoch nur betäubt werden und keinen bewussten Ausdruck finden, schlagen sich langfristig auf die Gesundheit nieder.

Die folgende Grafik zeigt, warum es unter der oben genannten, gängigen Annahme, nicht okay ist, das jeweilige Gefühl zu fühlen:

 
Das Problem ist an dieser Stelle möglicherweise die Lösung. Wie wäre es, wenn die Lösung darin läge, eine neue Perspektive auf Gefühle einzunehmen und die Taubheitsschwelle bewusst herabzusetzen während Sie Ihre Gefühle und die darin liegende Kraft wieder bewusst und verantwortlich in Besitz nehmen? Eine neue Sichtweise in Bezug auf Gefühle basiert auf der Annahme, dass Gefühle neutrale Energie und Information sind, die Ihnen dienen, sowohl privat, als auch im Job. Sie sind wie ein inneres Navigationssystem, dass Sie zielsicher durchs Leben leitet. Wenn Sie diese neue Annahme treffen, wie könnten Ihnen die Gefühle dann als neutrale Energie und Information dienen?


Beachten Sie bei dieser neuen Landkarte, dass insbesondere die Traurigkeit Ihnen dazu dient, verletzlich zu sein, authentisch in Verbindung mit anderen Menschen zu treten und empathisch zu sein. Soll es also wieder authentisch menschlich in den Unternehmen werden, ist es unabdingbar, die Kraft der Traurigkeit wieder in Besitz zu nehmen und bewusst zu nutzen.

Die Energie und Kraft der Gefühle wieder bewusst in Besitz zu nehmen, erfordert einen geschützten Trainingsraum. Es geht dabei nicht um Katharsis, die dazu dient, die Gefühle im Wald einfach raus zu lassen, um sie loszuwerden. Bei der bewussten Inbesitznahme Ihrer Gefühle geht es vielmehr um Kathexis, d. h., die Gefühle bewusst bis zu einem Maximum von 100% im Körper zu fühlen und die körperliche Erfahrung zu machen, dass Sie größer sind als das jeweilige Gefühl. Daraus entwickelt sich eine Stärke, die Ihnen niemand nehmen kann. Sie aktivieren wieder Ihr inneres Navigationssystem und können es anschließend nutzen, indem Sie klar und bewusst die Energie und Information eines jeden Gefühls anzapfen, sobald es auftaucht und dann beispielsweise in der Firma bei Ihren Kollegen konkret für Klarheit sorgen.

Der Gedanke, die Gefühle dann auch tatsächlich im Job wieder einzubringen und zu nutzen, mag für einige beängstigend klingen. Schließlich haben viele Mitarbeiter und Kollegen möglicherweise jahrelang alles dafür getan, um die Gefühle zu deckeln und sie nicht zu äußern.

Doch ziehen Sie einmal folgendes in Betracht:
Die Erde braucht dringend Menschen, die Zugang zu eben dieser inneren Gefühlskraft haben, um mehr und mehr Menschlichkeit und Authentizität zurück ins Leben und in die Business Welt zu bringen,  eine andere Art von Arbeit ermöglichen, eine andere Art von Miteinander und eine andere Art von Umgang mit der Erde. Die Erde braucht Menschen, die wieder bewusst fühlen können.

Gefühlskalte, knallharte, auf Konkurrenz gepolte, selbstgemachte Psychopathen, die auf der Hierarchie-Karriereleiter immer weiter nach oben steigen und die Dollarzeichen oder eine bestimmte Position im Auge haben, hatten wir nun lange genug. Das ist keine Wertung. Selbstgemachte Psychopathen, sind Menschen, die ihre Gefühle abgeschaltet haben, um im patriarchischen Kontext überleben und möglichst weit nach oben zu kommen, um im herkömmlichen Sinne vermeintlich erfolgreich zu sein. Wie eingangs erwähnt, funktioniert dieses Spiel jedoch nicht mehr. Es hat Resultate produziert, die die Menschen und die Erde krank machen. Die meisten Menschen sehnen sich nach authentischem Kontakt und danach, dass sie sich so zeigen können, wie sie sind, ohne Angst haben zu müssen, dafür ausgegrenzt oder abgewertet zu werden. 

Verletzlichkeit im neuen Sinne ist eine unglaubliche Stärke, eine Ressource, die Sie nutzen können, um eine neue Bewegung und letztendlich einen neuen Kontext in dem Unternehmen, in dem Sie arbeiten, zu etablieren. Sie können beginnen einen Kontext von Authentizität, aufrichtigem Kontakt, Liebe und kreativer Kollaboration aufzubauen. Logik und Härte konnten die bisherigen Führungskräfte und zielorientierten Kollegen im Business Kontext handhaben. Das kennen sie und haben sie jahrelang praktiziert. Sie sind grandios darin, Positionen zu verfechten und durch messerscharfe Argumente oder Vorgaben, andere in Schach zu halten.

Verletzlichkeit im neuen Sinne (also inklusive der verantwortlichen Erschließung der bewussten Gefühlskraft und Nutzung der Traurigkeit) können diese Business Leute nicht handhaben. Ab sofort haben Sie also eine neue Wahl: Sie können entweder das alte Spiel weiter spielen, oder Sie können eine neue Bewegung in Ihrer Firma starten, indem Sie sich verletzlich zeigen und authentisch sind und dadurch führen. Sogenannte Edgeworker – also Personen, die bereit sind, eine neue Richtung in einer Firma einzuschlagen, egal auf welcher Ebene – sind authentisch, menschlich, nahbar und Teil des Teams. Sie teilen authentisch mit, was sie gerade wahrnehmen und vertrauen ihrer Gefühlskraft, um Klarheit im Team und in der Firma zu schaffen. Im alten Sinne wären Sie verletzlich, wenn Sie Gefühle teilen oder zum Einsatz bringen, insbesondere Traurigkeit oder Angst. Sie wären angreifbar. Sobald Sie jedoch Ihre Gefühlskraft erschließen, haben Sie – selbst wenn Sie sich authentisch und verletzlich mitteilen – die Möglichkeit, sich jederzeit durch die Nutzung Ihrer bewussten Wutkraft zu schützen, indem Sie beispielsweise klare Grenzen setzen. Das eine bedingt also das andere. Mit bewusster, verantwortlicher Wut als Ressource im Hintergrund können Sie sich jederzeit verletzlich zeigen (indem Sie bewusst die Kraft der Traurigkeit nutzen).

Wie können Sie erste Schritte in Richtung mehr Verletzlichkeit und Authentizität unternehmen?

Eine Möglichkeit besteht darin, sich in den nächsten Tagen bewusst zu machen, was sie fühlen, wenn Sie beispielsweise in Besprechungen mit Kollegen sind. Beginnen Sie, sich selbst zu beobachten. Was fühlen Sie? Wann halten Sie sich zurück, obwohl Sie einen ganz klaren Impuls verspüren, dass etwas im Team nicht stimmig ist oder eine Entscheidung getroffen wird, die Sie nicht mittragen können? Beginnen Sie dann bei kleineren Gelegenheiten zu äußern, wie Sie sich fühlen. Sich verletzlicher zu zeigen beginnt mit der klaren Kommunikation „Ich fühle mich wütend/ängstlich/traurig/froh…, weil…“ Probieren Sie dies zunächst einmal in Ihrem Team. Wenn Sie voran gehen in der Kommunikation und in der Art, wie Sie sich verletzlich zeigen, ermutigen Sie dadurch automatisch die anderen, sich auch verletzlicher zu zeigen. Sie wünschen sich ein anderes Miteinander im Arbeitsumfeld oder haben die Vision einer völlig anderen Zusammenarbeit? Warten Sie nicht darauf, dass andere beginnen. Der Job liegt auf Ihrem Tisch. Gehen Sie den ersten Schritt. Die Erde und die Menschen brauchen mutige Pioniere, die bereit sind, diesen neuen Weg in Richtung Menschlichkeit einzuschlagen und sich für eine andere Spielwelt zu entscheiden. Sie können solch ein Pionier sein. Sind Sie dabei?

Herzliche verletzliche Grüße,
Ihre Nicola Nagel

Tipp: Mehr zum Thema „New Work“ finden Sie im Buch „Edgeworker: Leadership war gestern – Es ist Zeit für die Führungs-(R)Evolution!“ von Nicola Nagel und Patrizia Servidio. Details zur Kraft der Gefühle und ihrem großartigen Nutzen finden Sie darüber hinaus im Buch „Die Kraft des bewussten Fühlens“ von Clinton Callahan.


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